Süße Rache: Roman (German Edition)
sollen oder wenigstens um eine Broschüre mit den wichtigsten Richtlinien.
»Andie«, sagte sie wieder, auf eine Erleuchtung hoffend.
»Das haben Sie schon gesagt. Ist das eine Kurzform für Andrea?«
»Ja.« Was sollte sie auch sagen? Ihr fiel kein anderer Frauenname ein, der mit A-n-d begann. Auf gar keinen Fall würde sie ihm verraten, dass sie mit Nachnamen Butts hieß. Schließlich gab sie auf und zog die Schultern hoch. »Vielleicht morgen.«
Er hatte den Stift gezückt und setzte einen Vermerk in ihre Krankenakte.
Augenblicklich fand ihre Aufmerksamkeit ein neues Ziel. »Ich habe keinen Hirnschaden«, attackierte sie ihn gereizt. »Das ist allein Ihre Schuld. Durch Ihre Medikamente
bin ich so benebelt, dass ich nicht mehr klar denken kann, aber nicht so benebelt, dass ich keine Schmerzen mehr hätte. Haben Sie sich mal überlegt, wie es wohl ist, wenn einem der Brustkorb aufgeschnitten und auseinandergezogen wird, damit jemand am Herz herumbasteln kann? Hä? In mir ist alles festgetackert worden. Ich fühle mich wie eine Krankenakte. So viele Klammern trage ich mit mir herum. Aus meinen Klammern könnte man ein ganzes Haus bauen. Und was tun Sie? Sie kürzen mir die Schmerzmitteldosis. Sie sollten sich schämen.«
Sie verstummte, verblüfft, weil sie so die Beherrschung verloren hatte. Sonst griff sie nie jemanden dermaßen an. Normalerweise lächelte sie nur und gab sich niedlich. Warum verwandelte sie sich plötzlich in eine Zicke? Aber sie verstummte auch, weil er lachte. Er lachte.
Zeit seines Lebens hatte Simon den verschiedensten Versuchungen widerstanden, aber diesmal war es zermürbend. Ständig zerrte dieser Gedanke an ihm, ohne dass er ihn abschütteln konnte.
Er konnte Dreas Tod nicht vergessen. Er konnte ihr Gesicht nicht vergessen und auch nicht, wie freudig ihre Augen aufgeleuchtet hatten, als sie gestorben war. Er konnte sie nicht vergessen. Ihr Tod hatte eine Wunde gerissen, die er nicht erklären konnte und die nicht heilen wollte.
Er hatte Salinas Dreas Führerschein und das Bild gezeigt, das er mit seinem Handy geschossen hatte. Salinas war erbleicht, als er das Bild sah, und hatte einen Moment schweigend dagesessen. Schließlich hatte er gesagt: »Sag mir, wohin ich das Geld überweisen soll.«
»Vergiss es«, hatte Simon geantwortet. »Ich habe den Job nicht erledigt; sie hatte einen Unfall.« Allerdings hatte er sie aufgespürt, und sie war nur verunglückt, weil sie
zu schnell gefahren war, um ihm zu entkommen. Wäre es nicht um sie gegangen, hätte er das Geld ohne zu zögern genommen. Er hatte sie zwar nicht umgebracht, aber er hatte eindeutig ihren Tod verursacht; trotzdem konnte er zum ersten Mal kein Geld für den Tod eines anderen Menschen nehmen.
Diesmal war alles anders.
Er wollte nicht, dass es anders war. Er wollte nicht das Gefühl haben, als hätte sich in seinem Leben ein riesiges Loch aufgetan und er etwas so Wichtiges verloren, dass er auch nicht annähernd die Tiefe dieses Verlustes erfassen konnte. Er wollte vergessen, wie glückselig sie in den Tod gegangen war.
Aber das konnte er nicht; stattdessen hatte ihn in den vergangenen Wochen der bohrende Drang getrieben, ihr Grab zu finden. In ihrem Portemonnaie hatte mehr als genug Bargeld für eine anständige Beerdigung gesteckt. Würden die Behörden sie zu identifizieren versuchen und sie in einem Kühlfach lagern, während im Schneckentempo nach möglichen Angehörigen geforscht wurde? Oder würde man sie fotografieren, eine DNA-Probe nehmen und sie sofort beisetzen?
Im ersten Fall konnte er womöglich Anspruch auf ihren Leichnam erheben. Er würde ihr den schönsten, heitersten Friedhofsplatz besorgen, den er nur finden konnte, und sie dort beisetzen. Auf einem Granitstein würde Anfang und Ende ihres Lebens vermerkt sein. Er konnte dort Blumen niederlegen und sie gelegentlich besuchen.
Falls sie bereits beigesetzt worden war, konnte er sich darum kümmern, dass ein Stein aufgestellt wurde, und ihr Blumen bringen. Er musste nur wissen, wo sie lag.
Sie war bestimmt nicht schwer zu finden, dachte er. Er wusste, wo sich der Unfall ereignet hatte, also brauchte er
nur die Zeitungen zu durchforsten. Ein tödlicher Unfall, eine nicht identifizierte Frau – fünf Minuten, allerhöchstens, dann wüsste er Bescheid.
Er gab der Versuchung nach und setzte sich an den Computer. Er brauchte keine fünf Minuten, um sie zu finden. Sondern zwei Minuten und sieben Sekunden.
Unter ungläubigem Kopfschütteln
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