Suesse Versuchung
Bruder Patrick. Das war es nicht, was sie sich von
ihrem Leben erwartet hatte.
Sie war sich plötzlich bewusst, dass sie die beiden Männer mit Lord Edward verglich.
Lord Edward, der charmante Wüstling, der Mann, der immer dann auftauchte, wenn
sie nicht mit ihm rechnete. Auf den Klippen, im Obstgarten, auf einem Ball, im
dunklen Wald und zuletzt mitten in einer Orgie, um sie zu retten. Es bedurfte nicht
einmal sehr intensiver Gedanken, um sich sein Gesicht in Erinnerung zu rufen. Es
schien wie von selbst immer wieder vor ihr aufzutauchen. Auch jetzt war es ganz
deutlich wieder da. Die Augen in der Farbe eines schottischen Gewitterhimmels, die
Nase, die wohlgeformten Lippen, das kühle Lächeln, und dann jenes charmante
Grinsen, das ihr, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte, den Atem geraubt hatte.
Seine Hand auf ihrer, sein Arm um ihre Taille. Sein Körper, an ihren gepresst. Seine
Lippen. Sie konnte ihn noch spüren. Wenn sie darüber nachdachte, dann war er der
einzige Mann auf der Welt, von dem sie so gehalten, dessen Atem sie auf ihrer Haut
spüren, und dessen Lippen sie auf ihren fühlen wollte. Wie groß er war! Größer als ihr
Vater und gewiss größer als Patrick. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, wenn
sie ihn ansehen wollte. Ob sie ihm wohl bis zur Nase ging? Oder nur bis zum Kinn?
Schluss jetzt! Darum ging es nicht. Sophie rief sich energisch zur Ordnung. Sie durfte
jetzt nicht darüber nachdenken, wie Lord Edward küsste, das verwirrte sie nur,
sondern musste überlegen, wie sie mit dem geringsten Schaden für alle wieder aus
diesem Dilemma herauskam.
Als endlich der Morgen des zweiten Tages graute, fühlte sich Sophie wie gerädert.
Aber sie hatte einen Entschluss gefasst. Und nachdem sie ihre verschlafenen Augen
mit Wasser gekühlt und einige Tassen Tee hinuntergeschüttet hatte, war sie bereit, die
Konsequenzen für ihre unbedachten Handlungen zu tragen.
* * *
Lord Edward erschien pünktlich um elf Uhr. Sophie erwartete ihn schon an der
Eingangstür und zerrte ihn ungeachtet der missbilligenden Blicke von Tante Elisabeths
Butler in den kleinen Salon.
Wir müssen uns nicht verloben!, erklärte sie mit einem zuversichtlichen Lächeln,
nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Erstaunlicherweise schien Lord Edward ihre Genugtuung nicht zu teilen. Und
weshalb nicht?
Weil mein Vater mich doch nur zur Strafe hergeschickt hat! Sophie sprach hastig.
Wenn der Butler Lord Edward ihrer Tante meldete, war es zu spät sie musste es
schnell hinter sich bringen. Bevor Tante Elisabeth und Augusta hereinstürzten und sie
störten.
Strafweise? Lord Edward hob die Augenbrauen.
Ja, weil
, sie unterbrach sich. Das ging ihn nichts an.
Lord Edward blieb unbeeindruckt. Verzeihen Sie, Sophie, wahrscheinlich fehlt es
mir an ausreichendem Intellekt, aber ich kann keine Lösung erkennen.
Sophie packte ihn an den Jackenaufschlägen und zog ihn ein wenig zu sich herunter.
Der Mann war doch sonst nicht so schwer von Begriff! Aber verstehen Sie denn
nicht: Wenn er jetzt hört, dass ich bei einer Orgie erwischt wurde, wird er bestimmt
nicht dulden, dass ich auch nur einen Tag länger hierbleibe. Und, schloss sie
triumphierend, somit ist ein Skandal verhindert und das Problem gelöst! Ich werde
abreisen und meinem Vater alles beichten! Und Phaelas heiraten müssen , ergänzte
sie im Stillen. Aber das war nicht Lord Edwards Problem. Das war ihres.
Glauben Sie, unterbrach Lord Edward ihre trüben Gedanken, dass sich ein
Skandal damit vermeiden lässt, indem Sie abreisen? Damit öffnen Sie den Gerüchten
nur Tür und Tor. Wenn Sie Eastbourne verlassen, können Sie sich aus der Affäre
ziehen, aber Ihre Verwandten und vor allem Lady Elisabeth bleiben den
Klatschmäulern ausgeliefert. Er löste sanft ihre Hände von seiner Jacke. Und es gibt
viele, die sich sehr schnell und gerne an einen ähnlichen Skandal in Ihrer Familie
erinnern werden. Das Gedächtnis der Leute ist in diesen Dingen leider nur allzu gut.
Sophies soeben noch rosige Wangen wurden bleich. Da hatte er recht. Lady Elisabeth
würde schon recht geschehen, aber der Gedanke, die Leute könnten auf die Idee
kommen, schlecht über ihre Mutter zu sprechen, war schmerzhaft. Meinen Sie nicht,
dass es nicht doch genügen würde, wenn ich einfach verschwinde? Die Leute würden
nicht reden, denn immerhin haben Sie ja erklärt, dass wir verlobt sind. Da
Weitere Kostenlose Bücher