Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
verzerrtes Zeitgefühl. Musste es sie erstaunen, dass es noch Licht und den Himmel gab, nur weil sie kurz aus dem Maul des Drachen blickte? Würde dieser Tag je ein Ende finden?
»Was träumt Ihr, Fräulein? Beeilt Euch, die Zeit ist knapp.«
Die Kärglerin trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Nun ja, dachte die Herzogstochter belustigt, wenn sie es sagt, so will ich es gern glauben. So schnell wie möglich lieferten sie die Schuchsen im Spital ab und brachten die Weckerln, eine Art helle Semmel, die mit Mohn und grob zerstoßenem Zucker bestreut war, ins Waisenhaus. Dort verteilten sie selbst ihre Gaben an die Kinder, wie es die Tradition verlangte. Auf dem Rückweg bat Anna Lucretia die Kärglerin, bei der Wache in der Stadtresidenz auf sie zu warten. Sie sah nach ihrer immer noch bewusstlosen Tante und nach Widmannstetter, der sich von den morgendlichen Strapazen erholt hatte. Doch sie blieb nicht lang. Auf dem Rückweg in die Burg sprachen die beiden endlich wieder miteinander.
»Vor Weihnachten habt Ihr mit der Herzogin die Küche untersucht«, begann Theresa. »Ihr dachtet offensichtlich, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zuging.«
»Doch ohne etwas zu finden. Dennoch wurde mein Vater nach den Festessen wieder krank. Ist Euch etwas aufgefallen?«
»Nein, ich habe nur eine Idee. Ihr seid eine kluge Frau, vielleicht könnt Ihr Euch einen Reim darauf machen.«
»Kärglerin, ich bin nicht der heilige Laurentius auf dem Kohlengrill. Redet!«
»Mein Mann klagte vor Weihnachten, das Salz würde uns so schnell ausgehen. Erinnert Ihr Euch? Da haben sie alle gelacht und behauptet, er würde jedes Jahr das Gleiche sagen, obwohl es so viel zu pökeln gibt. Nun … das stimmt nicht. Es war wirklich das erste Mal, dass das Salz so rasch zur Neige ging. Dann habe ich die Augen offengehalten. Ich wollte es wissen. So eine Unverschämtheit mit meinem armen Kärgl! Ich dachte, Grünberger würde das Salz abzweigen, um es zu verkaufen. Doch so war es nicht. Er und Xaver Kurzbein schütteten Unmengen Salz in die Brühen und Soßen.«
»Sie schmeckten aber nicht versalzen.«
»Eben, Fräulein, eben! Ich konnte es nicht glauben. Hexerei, dachte ich. Sie haben gleich nach Weihnachten damit aufgehört. Doch jetzt wird für den Dreikönigstag gekocht und da geht es wieder los. Grünberger verlangt nach neuen Salzvorräten, aber die Brühen schmecken nicht versalzen. Ich weiß inzwischen, warum das so ist: Er schüttet genauso viel Zucker wie Salz in die Brühe, tut viel mehr Gewürze hinein als üblich. Deswegen schmeckt sie nicht salzig. Besser macht es sie allerdings nicht. Weshalb tut er das? Diese Paracelsusdiät verlangt das bestimmt nicht. Die italienische Kochmode auch nicht. Da kommt der Zucker in die Soßen, in die Creme und auf jedes Gericht mit Zimt und diesem Hartkäse aus Parma. Unsere Rezepte verlangen es auch nicht. Was stimmt da nicht?«
Anna Lucretia zermarterte sich den Kopf. Sie bedauerte zutiefst Sabinas Zustand, denn die Herzogin hätte die Antwort auf dieses Rätsel sofort gewusst. Zucker schadete ihrem Vater. Das wussten die Köche spätestens seit ihrem Verlobungstag. Sie machten weiter trotz angeordneter Zurückhaltung. Sie waren also Giftmischer, ohne wirkliches Gift bemühen zu müssen. Sicherlich handelten sie auf Ecks Befehl, der sie zu diesem Zweck bestach. Sollte man Grünberger und Kurzbein peinlich befragen? Würden sie dann wie Langhahn ermordet, bevor sie überhaupt aussagen konnten? Eck höchstpersönlich wachte über dieses Schlangennest. Wie konnte man ihn in flagranti ertappen?
»Theresa, wie kommt es, dass der Oberkoch nicht nach mehr Zucker und Gewürzen verlangt, obwohl er davon größere Mengen verbraucht als sonst? Das ist doch seltsam.«
Die Kärglerin hielt an und stemmte die Arme in die Hüften.
»Was habe ich gesagt? Ihr seid eine kluge Frau. Ich war nicht auf diese Idee gekommen, aber ich kann Eure Frage beantworten. Mein Mann kauft und prüft alles, was in die Küche kommt, sie verlässt oder dort gekocht wird, Tag für Tag. Nur den Zucker und die Gewürze nicht. Er kauft sie zwar ein, verwaltet sie aber nicht. Das ist das Privileg des Oberkochs. Er muss es nur sagen, bevor der Vorrat zur Neige geht. Das hat der Grünberger nicht öfter gemacht als sonst auch.«
»Folglich bekommt er die Mengen an Zucker und Gewürzen von jemand anderem. Denn aus eigener Rechnung würde er es kaum bezahlen können, oder?«
»Gewiss nicht. Oder jemand gibt ihm das Geld
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