Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
matter als während der Tage in der Stadtresidenz. Doch Sabina war nicht wirklich besorgt.
»Ach, Kind, die Menge macht es aus. Soldani hin oder her, dein Vater liebt, was er immer geliebt hat. Es schmeckt ihm nur, wovon er drei volle Schüsseln bekommt. Es ist nun mal Weihnachten!«
»Eben deswegen!« Anna Lucretia ärgerte sich. »Jedermann weiß, wie gern er viel isst bei einem Festmahl. An der Stelle eines Giftmischers würde ich ohne Zögern die Gelegenheit nutzen. Tante! Es wird ihm schlecht gehen nach dem großen Weihnachtsmahl. Ich weiß es, ich fühle es.«
»Was willst du tun, Holzkopf? Wir haben in der Küche alles inspiziert.«
»Im Dürnitz noch nicht. Vielleicht schrecken die Mörder zurück, wenn wir neugierig sind.«
»Wir müssen uns dort sowieso den Tafelschmuck ansehen.«
Als ihr der harzige Duft der frisch aufgehängten Zweige in die Nase stieg, weinte Anna Lucretia fast. Dieser Geruch gehörte unauflösbar zu den seltenen Tagen, die sie als Kind mit ihrer Amme bei ihrem Vater verbringen durfte. Alles, was sich dazugesellte, war ein Wunder: die hölzerne Tischpyramide, die mit Äpfeln, nelkengespickten Zitrusfrüchten und Wachskerzen geschmückt war; der furchterregende, festlich verzierte gefüllte Wildschweinkopf aus München; die Anrichten mit den Geschenken von anderen Höfen und den freien Reichsstädten – Coburger Schmätzchen, Dresdner Striezel, Marburger Printen, Marzipan aus den Hansestädten, Nürnberger Lebkuchen, Stuttgarter Springerle. Letztere ignorierte Sabina stets demonstrativ, weil sie von ihrem verhassten Ehemann Ulrich kamen. Die Priorin vom Kloster Altenhohenau schickte jedes Jahr besonders feine Kräpfli, Klosterfrauenseufzerl und eingekochte Pfirsiche. Ihre Lebzelten sollten das lutherische Gebäck der Pfeffersäcke aus Nürnberg vergessen lassen. In dieser Hinsicht waren auch die Nonnen von Frauenwörth, der Insel im Chiemsee, sehr eifrig. Sie buken einen köstlichen Mandelschmarren auf Oblaten, Schachbrett und Paternosterlebzelten mit allerlei süßem und wildem Gewürz – alle geprägt mit ihrem Klosterwappen.
Anna Lucretia rollten bei diesem Anblick stumme Tränen über die Wangen. Jedes Jahr schenkte Ludwig seiner Tochter vor dem Festmahl ein leeres Weidenkörbchen, das sie nach Lust und Laune füllen durfte. Das ging rasch, denn sie war erpicht auf die Leckereien. Am Ende schmückte sie das volle Körbchen mit dem Wundersamsten dieses Tages: zarten, frischen Rosenknospen! Jahrelang glaubte das Mädchen Anna, das Christkind würde in der Nacht seiner Geburt eine Rosenwolke auf die eisige Erde niederregnen lassen, die sich auf dem väterlichen Festtisch wiederfand. Inzwischen wusste sie, dass die Knospen nicht vom Himmel fielen, sondern aus dem Tiefbrunnen kamen, wo man sie seit dem Sommer unter einer Sandschicht in fest verschlossenen Steinkrügen aufbewahrte. Dennoch blieb das Wunder der geretteten Blumen für sie intakt. In der warmen Luft des Dürnitz öffneten sich die Rosenknospen. Ihr edler Duft vermischte sich mit dem der Tannenzweige, der mit Nelken gespickten Orangen und Zitronen und dem der Tischwaschbecken, in die die Mägde einen Kräutersud gossen. Der Duft von unbeschwerten, hoffnungsvollen Weihnachten! Könnte es sein, dass dieser Duft stärker war als die Hoffnung? Sabina wischte ihr barsch Tränen von den Backen.
»Jesus, Joseph, Maria! Kind, verschleierte Augen sind blind. Tue etwas!«
Doch es gab nichts zu tun als zuzusehen, wie alles wie jedes Jahr war und trotzdem anders. Auch die Herzogin fand nur Unverdächtiges. Doch aufgeben kam für sie nicht so schnell infrage.
»Welche Getränke sind vorgesehen?«, fragte sie Emil Mügschl, den Kellermeister. Der kleine Mann mit dem langen Schnurrbart war sehr erstaunt.
»Nun ja, was wir am Weihnachtstag immer kredenzen, Ihro Durchlaucht. Den Claret aus Kehlheim vom Hofrat Eck für den Durst, einen Malvasierwein für die Freude ob des neugeborenen Königs und mein bestes Moretum [3] zu Ehren seiner jungfräulichen Mutter. Ist etwas falsch? Wollt Ihr probieren, Ihro Durchlaucht? Sonst hätte ich auch einen Zwetschgenwein, der gerade reif ist. Doch das Moretum ist vollkommen: vier Jahre alt und aus dem Fass.«
»Nein, Mügschl, was sollte verkehrt sein?« Sabina beruhigte ihn. »Du kennst dein Handwerk. Es ist alles in Ordnung.«
Warum überhaupt fragen?, grübelte die Herzogin. Eck zeigte sich großzügig mit seinem Claret aus dem Donauland. Der Landshuter Wein derselben Rebstöcke schmeckte
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