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Sumerki - Daemmerung Roman

Titel: Sumerki - Daemmerung Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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verstand gar nicht, wie ich gehofft haben konnte, er würde sich nach den Ritualmorden plötzlich verändern.
    Begreiflich, dass ich mich verraten fühlte, als er mir erst die Seiten des Tagebuchs abluchste, mich dann wahlweise dem Jaguarmenschen oder den mörderischen Sektierern - war ja sowieso egal, wem - überließ und mich dazu noch ermahnte »brav zu sein«.
    In mir tobte ein Orkan. Ich begriff, dass der Major mich nur ausgenutzt hatte. Es war töricht und naiv gewesen, mich ihm zu öffnen, um ihm bei den Ermittlungen zu helfen. Sicher,
ich hatte aus Einsamkeit und Furcht gehandelt, aber nun fühlte ich mich selbst wie ein Verräter gegenüber jenen, die mir die Geheimnisse des Universums anvertraut hatten. Diese Schuld wollte ich unbedingt wiedergutmachen, und nur so lässt sich wahrscheinlich mein plötzlicher Entschluss erklären, die Nummer des Übersetzungsbüros zu wählen. Vergeblich: Nachdem ich mir zwanzig Minuten lang einige Hundert Freizeichen angehört hatte, schob ich das Ganze auf ein beschädigtes Telefonkabel, zog mich hastig an und stürzte hinaus. Ich musste unbedingt vor der Miliz ins Büro, um die Leute zu warnen. Vielleicht durfte ich dann noch auf Vergebung hoffen.
    Überall heulten Sirenen. Mitten auf dem Hof blinkte eine Ambulanz einen UAZ der Miliz an, Sanitäter liefen mit warmen Jacken über ihren weißen Kitteln zwischen Bahren umher. Kein Wunder, dachte ich, diesen Stress machte nicht jedes Herz mit, es hatte nicht viel gefehlt, und mich hätte das gleiche Los ereilt wie diesen armen Mann dort …
    Einige Häuser auf dem Arbat waren deutlich eingesunken. Ein erst vor kurzem errichtetes Neureichen-Hochhaus unweit der Metro hatte durch das Erdbeben gleichsam sein Rückgrat eingebüßt und zerbröselte nun mit jeder Minute mehr, während es umringt war von einem aufgeregten Schwarm aus Feuerwehrfahrzeugen und orange lackierten Intensivmobilen.
    Auf dem Gartenring, der schon an gewöhnlichen Tagen zu dieser Uhrzeit verstopft war, bewegte sich gar nichts mehr. Hier gab es kein Durchkommen. Auch die Metro befand sich allem Anschein nach in einem kritischem Zustand:
Alle Eichentüren an den Eingängen standen sperrangelweit offen und würgten schäumende Ströme dreckverschmierter, stolpernder und blinzelnder Passagiere hervor. Also machte ich mich zu Fuß auf den Weg.
    Unvorstellbar viele Menschen waren auf den Straßen, wobei die meisten nur verloren herumstanden oder wie schlafwandelnd hin und her irrten. Offenbar hatten sie in Panik ihre Wohnungen verlassen und wagten jetzt aus Angst vor neuen Erdstößen nicht, zurückzukehren. Wo Gebäude eingestürzt waren, gähnten schwarze Lücken in den gleichmäßigen Häuserreihen. Auf den Trümmern eines dieser Häuser stocherten zwei dreckverschmierte alte Frauen mit ihren Gehstöcken in den Steinen herum. Offenbar suchten sie nach einer verschwundenen Katze und weigerten sich, allen Anweisungen der Rettungskräfte zum Trotz, den Ort zu verlassen.
    Blutjunge Milizazubis mit Segelohren verjagten halbherzig einige Plünderer von den zerplatzten Vitrinen schicker Boutiquen, dicke Verkehrspolizisten versuchten hektisch, wenigstens eine der Straßenspuren für die Einsatzfahrzeuge frei zu machen, während sich Ambulanzen durch enge Gassen zwängten und die Verletzten vor den Hauseingängen aufsammelten.
    Von der feierlichen Stimmung des Vortags, all der winterlichen Herrlichkeit, war nichts übrig geblieben: Über Nacht war es plötzlich warm geworden, die Schneehaufen hatten sich eingetrübt und waren zusammengeschmolzen wie vom Tee aufgeweichte Zuckerstückchen auf einer Untertasse. Unter meinen Füßen schmatzte grauer Matsch, und es war klar, dass meine Stiefel und Hosenbeine schon nach hundert
Metern vollkommen verdreckt sein würden. Die Luft war ungewöhnlich warm und feucht.
    Ich rannte aus Leibeskräften, bis ich außer Atem war, dann ging ich langsamer, und schließlich schleppte ich mich erschöpft weiter, vorbei an zerstörten Gebäuden, vor denen sich panische Menschengrüppchen drängten, an weinenden Frauen und schreienden Kindern, an zerbeulten Autos und wachsenden Zeltstädten, an Reihen furchtbarer schwarzer Plastiksäcke, an erwachsenen Männern, die zu diesen Säcken sprachen wie zu ihren lebenden Töchtern, Vätern, Frauen …
    Moskau war nicht wiederzuerkennen. Der Glanz der Stadt, all ihre müßige, satte Selbstgefälligkeit waren von ihr abgefallen, als hätte sie eine einzige, gewaltige Ohrfeige einstecken müssen. Die

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