Sumerki - Daemmerung Roman
Notizbuch zu und drohte mir mit dem Bleistift.
»Die nächsten vierundzwanzig Stunden bleiben Sie zu Hause. Wir werden dieser Firma heute noch einen Besuch abstatten, und dann dürfte es nicht mehr lange dauern, bis
wir die Lösung haben. Wenn Sie allerdings verfolgt werden, und das ist allem Anschein nach der Fall, kann ich nicht dafür garantieren, dass Sie das Finale noch erleben.«
Er packte seine Aktentasche und ging Richtung Ausgang. Seufzend knöpfte er sich den Mantel zu und sagte: »Warum musste das alles ausgerechnet diese Tage passieren? Wir waren gerade so schön am Feiern … Und heute Abend wollten wir eigentlich mit den Kindern ins Theater, zu der Benefizveranstaltung von der Anissimowa …«
Ich stutzte. »Von wem?«
»Walentina Anissimowa. Ins Puppentheater. Es soll eine wunderbare Aufführung sein, über die Eroberung Lateinamerikas oder so. Wir haben uns schon Petruschkas Abenteuer angesehen - die Kinder waren begeistert …«
»Warten Sie mal … Ist diese Anissimowa nicht schon vor zehn Jahren gestorben?«
»Unsinn! Natürlich nicht. Wie kommen Sie darauf? Wir waren doch erst vor zwei Wochen in einer Vorstellung, sie ist danach selbst auf die Bühne gekommen.«
Auf einmal verließ mich das Gefühl für die Realität, und um mich zu überzeugen, dass ich nicht schlief, blickte ich nach der Castaneda-Methode auf meine Handflächen und zwickte mich dann heimlich am Bein.
»Na dann, nichts für ungut.« Er trat über die Schwelle. »Seien Sie brav, dann sehen wir uns morgen wieder.«
»Wenn uns nicht das Ende der Welt dazwischenkommt«, murmelte ich zu mir selbst, doch der Major hatte es gehört. Enttäuscht schüttelte er den Kopf.
»Glauben Sie wirklich an diesen Quatsch? Wachen Sie endlich auf. Es wird nichts dergleichen passieren.«
Im selben Augenblick begann auf der Straße die Alarmanlage eines Autos zu zwitschern, eine weitere kam hinzu und nach wenigen Augenblicken gellte der ganze Hof, als hätten sich sämtliche Fahrzeuge von einer Art Hysterie anstecken lassen. Von der Küche her hörte ich das bereits vertraute Klappern des Geschirrs und begriff sofort.
»Hierher!«, schrie ich Nabattschikow zu. »Unter die Tür! Ein Erdbeben!«
Die Umrisse der Wände, des Aufzugschachts, die blendenden Konturen der Fenster - alles verschwamm, wurde unscharf, schien sich zu kräuseln, als bestünde es nicht aus fester Materie, sondern aus lockerem, wackeligem Gelee. Der Schauder übertrug sich auf unsere Füße und unsere gegen den Türstock gestemmten Arme, erfasste unsere Körper, und einige endlose Minuten lang wurden wir so erbarmungslos durchgeschüttelt, dass ich schon dachte: Das war’s …
Ich hörte, wie das ganze Haus aufstöhnte. Ein solider Bau, von deutschen Kriegsgefangenen nach bestem Gewissen und voller Furcht vor den Gewehren der rigorosen NKWD-Leute errichtet, widersetzte es sich, krallte sich mit aller Kraft in den Grund wie eine hundertjährige Eiche. Über die Decke liefen verwinkelte Risse, dicke Putzplatten stürzten herab, Ziegelsteine zerbröckelten; in einem der oberen Stockwerke fiel etwas Riesiges donnernd zu Boden. Das Treppenhaus füllte sich mit ängstlichen Rufen und dem Kreischen von Frauen. Im Aufzug, der mit diabolischem Knirschen ein Stockwerk höher stecken geblieben war, heulte jemand panisch auf.
Dieser Anfall dauerte weit länger als der erste. Damals hatte ich noch gar nicht begriffen, was los war, als alles schon
wieder aufhörte. Nun aber, als die Erdstöße endlich nachließen, konnte ich überhaupt nicht glauben, dass der Alptraum vorüber war und wir alle noch einmal eine Gnadenfrist bekommen hatten.
Ich rieb mir die Augen und hustete mir den Kalkstaub aus den Lungen. Nabattschikow stand bereits wieder auf den Beinen, das Gesicht weiß wie ein Schauspieler des Kabuki-Theaters, und klopfte sich geschäftig auf den Mantel.
»Es bleibt alles wie vereinbart«, teilte er mir mit. »Lassen Sie sich nicht einschüchtern!«
»Aber …«, versuchte ich einzuwenden, doch er lief bereits hurtig die Treppe hinunter. Ich folgte ihm mit dem Blick und rief ihm nach: »Ihr Rücken ist ganz weiß …«
Ich sollte vielleicht erklären, warum ich damals das Verbot des Majors missachtete und mich selbst in Richtung Akab Tsin aufmachte. Die Begegnung mit Nabattschikow war ja ganz anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt hatte. Anstelle eines aufmerksamen Zuhörers und Beschützers hatte ich es erneut mit dem zynischen Ermittler zu tun gehabt. Ich
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