Sumerki - Daemmerung Roman
den Sperlingsbergen aus ein letztes Mal grüßen … Noch einmal die Platten von Miles Davis, Benny Goodman oder Andrew Agafonoff auflegen, das dichte Aroma frischen Kaffees einatmen und endlich meine Freunde von der Uni anrufen …
Was machte es schon, dass es diese Freunde gar nicht gab und nie gegeben hatte, ebenso wenig wie mich selbst und meine Eltern? Was machte es, dass ich niemals erfahren würde, was sich wirklich an der Stelle des Mausoleums befand, oder wie Jean-Paul Belmondo und Marilyn Monroe tatsächlich ausgesehen - und ob sie überhaupt jemals existiert hatten?
Ich hatte nie eine andere Welt gesehen als die, in der sich auf dem Roten Platz eine Maya-Opferpyramide erhob, in
der Moskau von müden, toten Soldaten besetzt wurde, in der die Kuppeln neu erbauter Kirchen lockend wie Falschgold funkelten und die Menschen aufgrund der Laune eines unbekannten höheren Wesens sich nach der Vergangenheit sehnten und die Zukunft fürchteten … einer Welt, die nach dem Ebenbild eines einzigen Mannes geformt wurde, in dessen engem Bewusstsein wir uns alle drängten, in dem Glauben, dies sei das grenzenlose Universum.
Ich liebte diese Welt so, wie ich sie kannte. Und ich wollte ihr dies sagen. Solange es noch nicht zu spät war …
Ich stand bereits in der Tür, als Knorosow mich aufhielt.
»Warten Sie. Hier, das erste Kapitel. Ich kann es jetzt nicht mehr brauchen … Wissen Sie, was? Ich danke Ihnen. Sie sind nicht umsonst hier gewesen. Sie können mich für verrückt halten, aber Sie haben mir geholfen. Sie haben mir die Kraft gegeben zu kämpfen. Selbst wenn mein Kampf zum Scheitern verurteilt ist, werde ich ihn nicht aufgeben und keinen Schritt zurückweichen. Und ich werde mich nicht mehr mit Prophezeiungen beschäftigen. Leben Sie wohl.« Er streckte mir die Hand entgegen.
Bevor ich ihn verließ, fiel mein Blick auf die Fotos, die an der Wand hingen. Eines davon ließ mich stutzen.
»Sagen Sie, was hat denn mein Hund auf Ihrem Foto zu suchen?«
»Ihr Hund?«, entgegnete er müde. »Aber nein, das ist meiner, Qetzal. Er ist allerdings schon lange tot …«
Ich lächelte leise. »Das spielt keine Rolle. Ich bitte Sie, gehen Sie mit ihm hin und wieder spazieren. Er langweilt sich dort und sehnt sich danach, draußen herumzulaufen …«
»Ich weiß«, sagte er und lächelte ebenfalls, zum ersten Mal überhaupt. »Ich weiß.«
Der Fahrstuhl stürzte mit unvorstellbarem Donnern und rasender Geschwindigkeit in den Abgrund, dass ich zuerst fürchtete, man wolle mich wegen meines Unglaubens in die Hölle schicken. Doch schon nach wenigen Minuten war ich wieder in dem staubigen Museumskorridor angekommen. Entweder hatte Itzamná es mit seinem Dank ernst gemeint, oder es existierte keine andere Unterwelt außer jener, in der wir für gewöhnlich leben.
Nach draußen gelangte ich durch den Haupteingang, den ich anhand der Wegweiser im Museum fand. Während ich die belebte Straße entlangging, musste ich an unser Gespräch denken. Knorosow hatte nicht auf mich hören wollen. Wer von uns beiden hatte also die Botschaft Casa del Lagartos richtig verstanden? Was erwartete uns hinter der Ziellinie, und musste man sich davor fürchten?
Letztlich ist das ganze Leben des Menschen eigentlich nur ein langsames Sterben. Dabei sterben nicht einmal wir selbst, sondern es ist die Welt um uns, die allmählich dahinwelkt. In den ersten Jahren unseres Lebens befindet sie sich in ihrer Blüte. (Sind nicht genau deshalb unsere Kindheitserinnerungen so leuchtend?) Wir sind umgeben von uns nahestehenden Geschöpfen: Vater, Mutter, Oma, Opa, dann kommen die Freunde aus Kindergarten und Schule, und es keimt die erste Liebe. Dies sind die Grundpfeiler, auf denen der Mikrokosmos eines jeden Menschen ruht. In der Kindheit und Jugend ist er real und spürbar, solange alle uns teuren Menschen mit uns unter den Lebenden weilen. Mit jedem von ihnen verbinden uns Myriaden feinster Fäden:
gleiche Gedanken, gemeinsam verbrachte Ferien, leichte, schwindelerregende Liebesabenteuer, eine rechtzeitig ausgestreckte Hand. Indem sie ein einheitliches Geflecht aus Erinnerungen und Erlebnissen bilden, weben diese Menschen an der seidenen Textur unserer Wirklichkeit, unserer Welt, unseres Lebens.
Doch die Jahre ziehen dahin, und einer nach dem anderen verlassen uns diese Menschen, verwandeln sich in körperlose Geister und finden ihre letzte Zuflucht in unseren Erinnerungen. Um ihre vertrauten Stimmen wenigstens für Sekundenbruchteile in unserem
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