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Sumerki - Daemmerung Roman

Titel: Sumerki - Daemmerung Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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Kopf erklingen zu lassen, den Zauber ihres Lächelns dem Vergessen zu entreißen, können wir stundenlang ihre Fotografien betrachten. Der Schmerz, den der Verlust eines geliebten Menschen verursacht, lässt sich nicht überwinden, nur die Zeit kann ihn betäuben.
    Mit jedem neuen Tod verlagert sich unser Universum immer mehr in eine andere Dimension - in die Sphäre unserer Fantasien, unserer Erinnerung. Es gleitet langsam in die Vergangenheit hinüber, wir leben immer weniger im Heute, sondern tauchen immer öfter in das Gestern ein, von dem wir nur undeutliche, verschwommene Abbilder im Bewusstsein haben.
    Als Erstes gehen die Großmütter und Großväter, der Hund stirbt, der stets bei uns war, als wir aufwuchsen - und mit ihnen stirbt auch unsere Kindheit. Ihr Tod ist wie eine Grenze, hinter der die sogenannte Reife beginnt.
    Dann kommen die Eltern an die Reihe. Wenn auch sie uns verlassen, so bedeutet dies, dass unser erwachsenes Leben beendet ist und wir an der Schwelle zum Alter verharren.
Schon stirbt jemand von den längst ergrauten Schulfreunden oder von den inzwischen zahnlosen, aber immer noch genauso frech grinsenden Studienkameraden; schließlich dein Mann oder deine Frau.
    Das ist das letzte Zeichen: Auch wir müssen uns bereithalten. Denn nun versinkt unsere ganze Welt wie ein leckgeschlagener Ozeandampfer im Abgrund der Vergangenheit. Dunkle Wasser füllen Tropfen für Tropfen die Kajüten unseres Gedächtnisses, die bevölkert sind mit Bildern von Kollegen, Wehrdienstkameraden, Phantomen unserer Väter und Brüder, Mütter und Schwestern … Mit mächtigem Schwall dringen sie ein in die Bankettsäle, wo wir unsere kleinen Triumphe feierten: erfolgreich absolvierte Schulprüfungen, durchlittene Immatrikulationstests, erotische Siege, Hochzeiten und Geburten, jahrelang erwartete Beförderungen. Auch die Laderäume überfluten sie, in denen die dunklen Stunden unseres Lebens vor sich hin rotten. Am liebsten hätten wir sie hermetisch abgeschottet, doch in unserem Gedächtnis klaffen Spalten, die sich niemals schließen.
    Im Alter gehören wir viel mehr dem Gestern als dem Heute. Knorosow-Itzamnás Krankenzimmer im Elfenbeinturm, seine mit vergilbten Fotos beklebte Zelle unterscheidet sich kaum von den Räumen, in denen andere einsame Greise ihre letzten Tage verbringen.
    Oft akzeptieren diese Leute das neue Leben nicht, stoßen mürrisch die Gegenwart zurück, denn sie mischt sich ein in die glückliche Aquarellwelt ihrer Vergangenheit. Ihre Titanic ist schon fast am Grund angekommen, doch sie wollen sie noch nicht verlassen. Am verrosteten Steuerruder stehend, blicken sie angestrengt zurück, in die Ferne. Sie
leben in Erinnerungen, ihre Welt hat sich fast endgültig in die Dimension der Geister und Illusionen verschoben, wo ihre Eltern leben, wo sie spüren können, wie die raue Hand ihres Großvaters ihnen sanft über die Wange streicht, und wo sie noch immer das ausgelassene Bellen ihres geliebten Hundes hören, wie er sie auffordert, ihm das Stöckchen zuzuwerfen, auf dass dieses fröhliche und einfache Spiel niemals aufhöre.
    Wenn die Wogen des Vergessens die Kapitänsbrücke erreichen und unsere Füße umspülen, müssen wir nur noch ein letztes Mal in Würde salutieren und schweigend die Augen schließen. Dann sind wir an der Reihe, jene Grenze zu markieren, die das Ende der Kindheit für unsere Enkel und den Beginn des Alters für unsere Kinder bedeutet.
    Ich kann nicht genau sagen, wie lange meine Audienz bei Gott dauerte. Ich hatte keine Uhr dabei. Dem düsteren Himmel nach zu urteilen, der nur ein wenig durch ein fahles Wolkengemisch erhellt wurde, war es bereits später Abend, vielleicht sogar Nacht. Dennoch waren noch immer ungewöhnlich viele Menschen auf den Straßen. Arbeiter und Rettungskräfte durchsuchten die Trümmer, und in den Zeltstädten, die aus dem Boden der zerklüfteten Straßen gewachsen waren, brodelte ein ungesundes, fiebriges Treiben. Die Stadtbevölkerung schien nicht mehr schlafen zu wollen, aus Angst, die Augen - einmal geschlossen - nicht mehr öffnen zu können. Nun, diese Angst war verzeihlich, denn sie hatten ja keine Ahnung von dem, was ich wusste, und ich verspürte nach meinem Gespräch mit Itzamná kein Verlangen, ihnen ihr baldiges, unabwendbares Ende zu verkünden.

    Wie verbringt man die wenigen Stunden, die einem noch bleiben? Was tut man, wenn man weiß, dass man nicht mehr alles schafft? Welche langgehegten Träume erfüllt man sich noch?
    Ich wusste

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