Sumerki - Daemmerung Roman
hatte. Woher kannte ich all diese Einzelheiten? Hatte ich vielleicht mit halbem Auge etwas davon mitbekommen, als ich Kümmerlings Bändchen überflog? Wohl kaum: Eine nur flüchtig gelesene Passage hätte meine Fantasie niemals so angeregt.
Blieb nur zu hoffen, dass es sich hier um einen Fall von überreizter Fantasie handelte. Ein operativer Eingriff war dringend geboten, bevor sich ein Abszess bildete, der womöglich zu platzen drohte. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich mir eine wissenschaftlich exakte historische Darstellung der Menschenopfer bei den Maya besorgen; die massiven Unterschiede zu den Ereignissen in meinem Alptraum würden meine Nerven sicher beruhigen.
Zum Kaffee machte ich mir Käsebrote und ein pflaumenweiches Ei mit Pfeffer und Salz - ein Junggesellenfrühstück. Entscheidend war dabei, kein Eigelb auf die Hose tropfen
zu lassen, damit mein Schicksal für Außenstehende nicht allzu offensichtlich wurde.
Nachdem ich diese Aufgabe gemeistert hatte, kehrte ich unverzüglich an meinen Arbeitsplatz zurück. Schlafen war gut und schön, aber der Auftrag musste erledigt werden. Schließlich war es ein reiner Glücksfall, dass ich diese faszinierende Übersetzung nicht nur zum Vergnügen machte, sondern mir sogar ausrechnen konnte, damit innerhalb einer Woche meine Rechnungen zu bezahlen. Ja, wenn ich mich nicht täuschte, würde sogar noch etwas übrig bleiben - für die Anschaffung eines großen spanisch-russischen Wörterbuchs.
Wahrscheinlich ahnte ich an jenem Morgen bereits, dass dieser Text für mich weit mehr war als Zeitvertreib und Broterwerb. Nur wenig später sollte sich dieses Vorgefühl konkretisieren, zur festen Gewissheit werden und sich schließlich - in Panik verwandeln.
Da mein Arbeitstag ungewöhnlich früh begonnen hatte, war ich zeitig mit der Recherche der fehlenden Wörter sowie der Korrektur des Textes fertig. Natürlich waren meine Gedanken nicht ganz so frisch wie sonst, doch zeigten die hoch dosierten Koffeinstöße ihre Wirkung. Gegen Abend setzte ich mich an meine alte Olympia und tippte mit Kohlepapier zwei Ausfertigungen der Übersetzung ins Reine.
Es hatte etwas gedauert, bis sich die Leute vom Übersetzungsbüro mit meiner Computer-Aversion abgefunden hatten. Ich weiß nicht, wo das Problem liegt: Man hat doch früher auch nicht anders gearbeitet, ohne CDs, USB-Sticks
und E-Mails. Von mir aus konnten sie den anderen Übersetzern die Aufträge per Telefonleitung schicken - ich persönlich bin durchaus in der Lage, die Treppe hinabzusteigen und vier Häuserblocks zu gehen, um mir das Material selbst abzuholen. Diesen PCs vertraue ich einfach nicht, ja ich hege eine Abneigung gegen sie, wie übrigens gegen jegliche elektronischen Geräte. Einen Fernseher habe ich mir aus Prinzip erst gar nicht zugelegt - mir genügt, was ich bei Freunden mitkriege, um zu begreifen, wie sehr die Zuschauer dadurch verblöden. Ganz anders das Radio: Es zeigt keine Bilder und regt daher die Fantasie an. Und dann: In einer Wohnung voller verschnörkelter Möbel aus dem 18. Jahrhundert müssten PCs und TV-Geräte doch aus Scham über ihre Hässlichkeit und Kurzlebigkeit alsbald durchbrennen. Sogar das Transistorradio aus den 70er Jahren reagiert auf all diese Pracht nicht selten mit Empfangsstörungen - wie würde es da erst einem Computer mit Internetanschluss ergehen? Zumal ich nie richtig gelernt hatte, wie man ihn bediente.
Von den beiden Endfassungen der Übersetzung legte ich eine in die Ledermappe, die andere heftete ich in meinem Ordner ab. Es war jedoch schon zu spät, um ins Büro zu gehen, also blieb ich zu Hause und verbrachte den restlichen Abend in seliger Untätigkeit.
Erneut las ich die Erzählung des Konquistadoren von Anfang an. Dann blätterte ich wieder durch Kümmerlings Bändchen in der Hoffnung, doch noch einen Hinweis darauf zu finden, dass es in jener Gegend, in die sich meine Spanier begeben hatten, verlassene Städte gab. Vergebens: Das gesamte Gebiet des heutigen mexikanischen Bundesstaates
Campeche - also das westliche Drittel der Halbinsel Yucatán - war unbewohnt. Erst Hunderte von Kilometern weiter südlich, an der Grenze zu Guatemala, unweit des Petén-Itzá-See befanden sich die nächsten Siedlungen. Doch um dorthin zu gelangen, hätte man gleich zu Beginn einen anderen Weg einschlagen müssen. Die Indios hatten die Truppe dagegen tief in den Urwald geführt.
Ich beschloss, mir diejenigen Kapitel bei Kümmerling genauer anzusehen, in denen es um
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