Sumerki - Daemmerung Roman
an den erbeuteten Reichtümern zustand? Ihm und dem Franziskanerorden, warum nicht? Schließlich wären jegliche finanziellen Mittel für die Erweiterung des Klosters oder den Bau eines neuen höchst willkommen. Deshalb hatte er wohl auch Fray Joaquín mit der Räuberbande losgeschickt, um die Interessen des Ordens zu wahren. Diesen Leuten war nicht zu trauen; wandte man ihnen den Rücken zu, stießen sie einem den Dolch bis ans Heft hinein. Auf Ehrlichkeit und Edelmut durfte man nicht hoffen. Sowie sie das Dach des geheimen Tempels erblickten, wie es in den abendlichen Sonnenstrahlen funkelte, würden sie ihre kleine Schuld gegenüber Fray de Landa genauso vergessen wie ihre Liebe zur Heiligen Jungfrau Maria. Durchtriebene Kerle waren das, so viel war klar.
Oder doch nicht? Vielleicht stellten die gesuchten Manuskripte für Diego de Landa tatsächlich einen Wert an sich
dar, und die Konquistadoren hatte er gelockt, indem er ihnen sagenhafte Schätze verhieß, eingemauert in der Geheimkammer eines halb zerstörten Tempels, zusammen mit den primitiven gefalteten Büchlein der Indios aus Rindenbast und Leder. Bringt mir nur die Manuskripte, der Rest gehört euch!
Und die indianischen Wegführer? Versuchten sie nur die alten Heiligtümer ihres Volkes vor Schändung und Raub zu schützen? Wahrscheinlich …
Ich fühlte ich mich in diesem Moment so wie sich ein Archäologe fühlen muss, wenn sich die vielen bunten Keramiksplitter, die er in den Ruinen einer Maya-Pyramide ausgegraben hat, nach langen Stunden mühseliger Arbeit endlich zu einem faszinierenden, uralten Mosaik zusammenfügen.
Bevor ich mich schlafen legte und das Licht ausmachte, blätterte ich noch schnell die letzte Seite um, um sicherzugehen, dass ich nichts übersehen hatte.
»Dass am folgenden Tage Hernán González zu mir kam und zu mir sprach. Dass ich nach diesem Gespräch begriff, dass Fray Diego de Landa mir nicht alles über unsere Expedition gesagt hatte. Dass mich die Worte des Indios in höchstem Maße beunruhigten, worüber ich im Vierten Kapitel dieser Erzählung berichten werde.«
EL CENAGAL
I n dieser Nacht wartete mein Hund vergeblich auf seinen Spaziergang. Zu sehr beschäftigten mich die Geheimnisse des Urwalds und jene unausgesprochenen Informationen, die Diego de Landa den einfältigen Konquistadoren vorenthalten hatte. Ich träumte diesmal etwas ganz anderes.
Eine Ansammlung hoher Pyramiden. Jede ihrer vier Seitenflächen durchschneidet in der Mitte eine Treppe. Steil steigen die Stufen hinan bis zu jenem flachen Plateau, wo sich der Altar befindet - himmelwärts, zu den Göttern. Fledermäuse hängen in Trauben von der Decke gigantischer Paläste aus weißem Stein. Es sind Paläste, die ohne Hilfsmittel wie Rad oder Flaschenzug von Tausenden todgeweihter Sklaven erbaut und später an einem einzigen Tag ohne ersichtlichen Grund von ihren Bewohnern verlassen wurden. Wände voller Hieroglyphen, in Stein gehauene Masken von Ungeheuern, Helden, Gottheiten und Dämonen. In der Mitte des Aufstiegs eine kleine Plattform, auf die sich eine Tür aus dem Inneren der Pyramide öffnet; Steinmetze und Bildhauer haben die Tür in den geöffneten Rachen der Himmelsschlange verwandelt.
Kleine, dunkelhäutige Menschen in seltsamer Kleidung stehen im Kreis. Sie tragen goldene Stirnreifen. Auf dem Opferstein liegt ausgestreckt ein Gefangener, kraft- und willenlos, man hat ihm ein berauschendes Getränk eingeflößt, mit sinnentleertem Blick stiert er suchend um sich. Der
gleichförmige Totengesang der Priester in tunikaartigen Gewändern wird immer lauter, immer unheimlicher …
Der messerscharfe Stein fällt von oben herab, fährt zwischen die Rippen, zerreißt das Fleisch. Noch ein Schlag, und der Brustkorb ist offen, Blut spritzt heraus, die glotzenden Augen des Gefangenen überzieht ein tödlicher Schleier, hellroter Schaum tritt aus seinem Mund, aber noch lebt er. Die Opferung folgt strengen Regeln, das Ritual ist nach Jahrhunderten ebenso fein geschliffen wie das Opfermesser selbst. Die diabolische Kunst besteht darin, zu verhindern, dass das Opfer stirbt, bevor die Rippen auf der linken Seite der Brust durchbrochen sind und das noch schlagende Herz freiliegt. Der Unglücksrabe haucht erst dann sein Leben aus, wenn der Priester diesen pulsierenden, zuckenden, nach Blut ringenden Klumpen herausreißt und in ein besonderes Gefäß wirft. Der Körper des Toten, noch Augenblicke zuvor krampfhaft gespannt wie die Sehne eines indianischen
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