Sumerki - Daemmerung Roman
Marat Sinowjewitsch, denn Erdbeben haben mit klimatischen Veränderungen rein gar nichts zu tun. Jedenfalls, wenn Sie meine Meinung hören wollen: Von globalen Tendenzen ist bisher noch nicht zu sprechen. Es handelt sich bei den Naturkatastrophen um einzelne Ereignisse, und es ist reiner Zufall, dass diese im Moment so gehäuft auftreten. Zudem wird äußerst intensiv über sie berichtet, was natürlich leicht zu dem Eindruck führt, dass da weiß Gott was passiert.«
»Gut, dann bitten wir Sie um Ihre Meinung, Marat Sinowjewitsch. Tsunamis, Erdbeben, Vulkanausbrüche - passiert das alles nicht ein bisschen häufig in letzter Zeit?«
»Häufig? So gut wie ständig! Und wissen Sie was? Das ist ein vollkommen natürlicher Prozess, der übrigens ziemlich wenig erforscht ist. Es ist nämlich so: Gar nicht weit von der Küste Indonesiens treffen tektonische Platten aufeinander. Diese Platten befinden sich in ständiger Bewegung, und es gibt vor allem zwei große Bruchzonen: eine im Atlantischen Ozean, dort driften sie auseinander. Und die zweite liegt eben genau in Südostasien, wo die Platten aufeinanderprallen und dadurch Erdbeben und Tsunamis auslösen. Und ich sage noch mehr: Dieser Prozess kommt jetzt erst richtig in Gang, das heißt, die Region wird weiter seismisch instabil bleiben. Sofern unter unseren Zuhörern also solche sind, die nach Thailand oder Bali in Urlaub
fahren wollen: Sie sollten dieses Risiko bei Ihrer Planung bedenken. Was allerdings die Hurrikane, Überschwemmungen und Ähnliches anbelangt, so gehört das nicht zu meinem Bereich, da hat Andrej Walerjewitsch ganz Recht.«
»Danke, Marat Sinowjewitsch. Wenn unsere Gäste mir einen kleinen Exkurs erlauben, so würde ich gern von einem Gespräch mit einem ziemlich bekannten Umweltforscher berichten, das ich vor kurzem geführt habe, dessen Namen ich hier nicht nenne. Er vertritt die überaus interessante These, dass die Erde, die Welt, sozusagen die Gesamtheit aller Geschöpfe und sämtlicher Materie, eine Art Superorganismus darstellen, möglicherweise sogar jene ultimative Verkörperung Gottes, nach der die Menschen schon immer suchten. Laut dieser Definition wäre die menschliche Zivilisation eine Art Krebsgeschwür im Körper dieses Superorganismus. Krebs ist ja nichts anderes als eine plötzliche Veränderung im Verhalten menschlicher Körperzellen, nicht wahr? Sie beginnen unkontrolliert zu wachsen, andere Zellen und das umliegende Gewebe zu zerstören sowie Metastasen im ganzen Körper zu verteilen, von denen jede einzelne ein neues Geschwür werden soll, und das alles erfolgt nach einer primitiven, destruktiven Logik von Expansion und Vertilgung. Die heutige menschliche Zivilisation ist eine solche Krankheit, eine Art Abweichung im genetischen Code der Zellen, die den wunderbaren, stillen, für die Ökosphäre völlig ungefährlichen Höhlenmenschen zu einer neuen, veränderten Kreatur gemacht hat, den Keim des künftigen Geschwürs. Einmal von der Zivilisation befallen, beginnt die Menschheit sich stürmisch zu entwickeln und verändert sich dabei nach denselben Prinzipien, denen auch die Entwicklung der Krebserkrankung folgt. Es kommt zu einem maßlosen, unkontrollierten zahlenmäßigen Wachstum, Metastasen bilden sich zur Zeit der großen Entdeckungen und der Kolonisierung, seien es Kolumbus,
Vasco da Gama oder meinetwegen auch Afanassi Nikitin. Diese Analogie geht natürlich immer weiter und lässt sich auf die Industrialisierung und die Globalisierung anwenden, auf die Rodung der Wälder in Amazonien und Sibirien, auf CO 2 -Emissionen, die Erschöpfung der fossilen Rohstoffe, die Einleitung toxischer Abwässer in Flüsse und Ozeane, Unfälle in Atomkraftwerken und anderes. All diese Katastrophen und Schäden sind nur die Folge dessen, dass die Menschheit den lebenden Superorganismus schon fast vollkommen vergiftet hat und dieser langsam stirbt. Das ist natürlich eine ziemlich menschenfeindliche Theorie, aber sie hat schon etwas für sich, nicht wahr? Was natürlich nicht bedeuten soll, dass ich selbst daran glaube.
Zurück zu unserem Thema. Eine Frage an den Katastrophenschutzminister: Sergej Kotschubejewitsch, sind wir eigentlich in ausreichendem Maße technisch ausgerüstet, um gefährliche natürliche Prozesse zu beobachten und gegebenenfalls vorauszusagen, ob …«
Bei dem Wort »vorauszusagen« wurde mir dunkel vor Augen. Die Antwort des Ministers hörte ich nicht mehr. Sie ging unter in dem ungeheuren Donnern, mit dem sich
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