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Schlimmerem als zu Mord konnte auch ein böser Gott nicht aufrufen. Andererseits war die Überlegung höchst simpel. Ohne Sonnenkraft keine stabile Passage. Ohne stabile Passage kein Dur, der sie benutzen konnte.
Und auf dem Spiel stand nicht nur das friedliche Zusammenleben der Wesen auf Less, sondern die Existenz aller Lebewesen überhaupt. Dur würde Less in die Hölle verwandeln. Das hatte Corundur erkannt und deshalb die Sekte der Warner gegründet.
Daher musste Afil Silden dafür sorgen, dass Shanija Rans Leben hier endete.
Sie öffnete die Augen und blickte in das Wunder der Quelle. Das Wasser schoss von unten aus dem Boden, drehte sich, obwohl es kein Mühlrad gab, einmal in der Luft und raste nach oben weiter. An den Lippen nagend erhob sich die Nelta. Ihre Schritte führten sie in der Grotte nach rechts zu einer steinernen Treppe. Zügig stieg sie aufwärts und stoppte vor einer Felswand. Mit dem rechten Arm griff sie in ein Loch. Ihre Finger berührten eine Art Zacke, an der sie drehte. Kaum hatte sie den Arm aus dem Fels gezogen, glitt die Wand zur Seite und gab den Zugang in einen Kellerraum frei. Eine Wendeltreppe führte ins Freie. Afil Silden ging ohne Umweg in ihre Villa.
Im Vorraum angekommen, unterdrückte sie die Schemen der Vergangenheit, die sich in ihr Bewusstsein schieben wollten.
Die Vergangenheit ist nicht zu ändern
, hielt sie sich einem Mantra gleich vor Augen, mit dem sie bereits den Tod ihres Gatten verarbeitet hatte.
Einzig und allein die Zukunft zählt
.
Sie hätte sich schon längst etwas einfallen lassen müssen, damit der Geist ihres verstorbenen … ihres
ermordeten
Gemahls nicht mehr im Haus schwebte.
Genug damit. Sie musste jetzt jeden weiteren Gedanken an ihr bevorstehendes persönliches Schicksal verdrängen. Als Nelta musste sie stark sein. Für Corundur, für die Warner und für Less.
Im Besprechungszimmer nickte ihr der Assistent zu und Afil holte tief Luft, bevor sie die Tür aufstieß.
Da warteten sie, junge Frauen und Männer. Zwölf Kämpfer gegen die Abgesandte der Dunkelheit. Aus ihren Gesichtszügen sprach die Entschlossenheit, ihr Leben für die gerechte Sache und zum Schutz für Less zu opfern. Ihr Glaube an eine bessere Zukunft ohne eine stabile Passage und damit ohne Dur erfüllte ihr Leben. Dafür waren sie bereit zu sterben.
Langsam schritt Afil die Reihe ab. Mit einem hart ausgesprochenen »Karem Dur« klopfte sie jedem Kämpfer mit der Faust gegen die Brust.
Beim Vorletzten in der Reihe blieb sie stehen und musterte den fingerbreiten Narbenstrang, der sich vom linken Lid bis zum Ohr spannte. Früher, als sie sich um seinen Haarschnitt gekümmert hatte, war die Narbe immer verdeckt gewesen. Nun trug er sie sichtbar und mit Stolz.
»Mutter …«
Obwohl es sie schmerzte, brachte sie ihn mit einem Blick zum schweigen. »Ich weiß, was du sagen willst. Wir haben das bereits besprochen! Deine Schwester trägt das Linpha!« Ihre Faust klopfte gegen seinen Brustbereich und sie sprach die rituellen Worte erneut.
Afil wandte sich nun an die letzte Frau in der Reihe. »Piena«, sagte sie, »entscheide weise über den Zeitpunkt, an dem du das Linpha entfaltest.«
»Das werde ich, Mutter.«
Aus der zweiundzwanzigjährigen Frau sprach der Hass. So sehr sich Afil auch bemüht hatte, Piena und Giacobe nach dem Mord an ihrem Vater hassfrei zu erziehen, so sehr hatten sich die beiden Kinder in ihre Wut hineingesteigert. Ihr ganzes Leben hatten sie der Rache an den Erlösern gewidmet. Beide hatten trainiert, um das Unrecht zu vergelten. Und nun bot ihnen das Schicksal eine, wenn nicht sogar
die
Gelegenheit, die Mörder ihres Vaters an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen. Der Preis, den sie dafür zahlen würden, kümmerte sie nicht.
Afil fühlte Tränen in sich aufsteigen und klopfte ihrer Tochter rasch gegen die Brust. »Karem Dur!«
Die Kämpfer marschierten danach aus dem Raum und ließen die oberste Nelta der Warner der Flüstertüte allein.
»Nur die Zukunft zählt«, murmelte sie und wusste gleichzeitig, dass sie sich selbst belog.
Heute betrat sie den Korridor unterhalb der Flüstertüte ohne Angreifer. Nachdem sich der Sturm gelegt hatte und die Schäden beseitigt worden waren, herrschte hier wieder lebhafter Betrieb, und die verschiedensten Geräusche schwirrten durch die Luft. In Zischlaute mischte sich Blöken, in Knarren lauter Singsang und menschliche Stimmen verquirlten sich mit geplätscherten Worten. Und das alles war eingewebt in eine
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