SunQuest - die Komplettausgabe 2800 Seiten zum Sonderpreis: Dies Cygni und Quinterna (German Edition)
Männer, Frauen und Kinder diese Wege mit völliger Selbstverständlichkeit nehmen, als gäbe es gar keine Gefahr, in die dunkle Tiefe zu stürzen. Staunend nahm sie den Anblick in sich auf und bemerkte die Rückkehr des Korbes erst, als Aventar nach ihrem Arm griff und daran zerrte. Mit einer unwilligen Bewegung riss sie sich los und folgte dann den Männern, die über eine steile Holztreppe zu einem Felsabsatz hinunter stiegen.
Am Fuß der Treppe blieb der Anführer stehen.
»Ich löse deine Fesseln, damit du dich auf dem Weg festhalten kannst«, sagte er zu Seiya. »Sei lieber nicht so dumm zu glauben, du könntest das für einen Fluchtversuch nutzen. Es wäre mir sonst eine Freude, deine Haut mit ein paar Mustern zu versehen, ehe wir dich der Erlösung anheimfallen lassen, oder was auch immer der Verkünder für dich plant.«
Seiya erwiderte seinen Blick. »Keine Sorge. Ich weiß durchaus, wann meine Möglichkeiten erschöpft sind. Entspann dich also und spar dir deine Energien für Wichtigeres.«
Schweigend bewegte die Gruppe sich den Felsabsatz entlang, stieg über Leitern und Treppen, vorbei an ineinanderverschachtelten Häusern und teilweise auch durch sie hindurch. Es schien völlig selbstverständlich zu sein, dass sie durch Räume gingen, in denen gerade gekocht, gespielt oder geliebt wurde, um Leitern und Rampen zu anderen Ebenen zu erreichen, oder Hängebrücken, die über schwindelerregende Tiefen hinweg zur nächsten Staffel gestapelter Häuser führten.
Schließlich erreichten sie einen der vier großen Höhleneingänge, die Seiya schon von der Landeplattform aus bemerkt hatte. Der Boden führte darin steil abwärts, und schon nach wenigen Schritten wurde es zu dunkel, um noch etwas zu erkennen. Die Gruppe blieb stehen, einige Fackeln wurden angezündet, und sie begannen den Aufstieg.
Glitzernde Quarzadern hatten sich hier unter das rote Felsgestein gemischt und warfen das Licht bunt gebrochen zurück. Tröpfelndes Wasser und durch die Schluchten tobende Winde hatten zudem in früheren Zeiten bizarre Formen in die Wände geschliffen. Jemand hatte diese phantasievoll bemalt, wobei die Art der Phantasie eine war, die Seiya Schauder über den Rücken trieb. Ausgerissene Glieder wechselten sich ab mit Strömen von Blut, aufgespießten Leibern und Rümpfen, die aus den Mäulern von realen oder erdachten Raubtieren hingen. Dicht an dicht reihten sich die Bilder entlang des Gangs, und die geschickte Einbeziehung der Formen und Farben des Felses ließen sie unter dem flackernden Fackellicht zu Leben erwachen.
Was hier in kunstvoller Ausgestaltung liebevoll dargestellt worden war, war die Hölle auf Less.
Seiya fühlte Dankbarkeit aufsteigen, als endlich wieder das Licht der Sonnen vom anderen Ende der Höhle hereinfiel. Auch den anderen schien es so zu gehen, obwohl sie es lange gewohnt sein mussten, denn ihre Schritte beschleunigten sich merklich. Endlich verließen sie die Dunkelheit und die Schrecken der Höhle, und die Exilkönigin trat in helles Sonnenlicht.
Es war, als hätte jemand mit einem Bohrer vom Himmel her ein kreisrundes Loch von mehr als zweihundert Metern Durchmesser in das Felsplateau gebohrt. Am Grund des so entstandenen Loches standen nun Seiya und die Männer, und unwillkürlich richteten sich nach dem Weg durch die dunkle Höhle alle Blicke zunächst nach oben, zum Licht.
Auch hier waren, wie über der Schluchtsiedlung, gestaffelte Planen gespannt, die dem unbeteiligten Beobachter kahlen Fels am Grund des Loches vortäuschten. In Wirklichkeit jedoch plätscherte hier ein kleiner Bach durch einen sorgsam angelegten und liebevoll gepflegten Park. So, wie die Höhle die Hölle dargestellt hatte, wirkte dies hier wie ein Abbild des Paradieses.
Und der Herrscher dieses sogenannten Paradieses ist Aliandur, der Verkünder. Er versteht sein Handwerk
…
Es war eine gute Strategie. Seiya kannte die Elendsviertel und Flüchtlingslager, die sich nach der Passage wie Krebsgeschwüre rings um Burundun und viele andere Städte ausgebreitet hatten. Sie waren Brutstätten für Krankheiten und Gewalt, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit – alles, was es brauchte, um Sekten wie die der Erlöser weiterhin blühen zu lassen, auch nachdem der ursprüngliche Grund ihrer Entstehung längst vorüber war. Nur die Ziele hatten sich geändert; nicht aber die Skrupellosigkeit ihrer Anführer und die Sehnsucht der Anhänger nach einer Welt, in der sie nicht nur Spielbälle waren. Aliandur kam das
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