SunQuest - die Komplettausgabe 2800 Seiten zum Sonderpreis: Dies Cygni und Quinterna (German Edition)
Drachen auf der Schulter, stand die Königin ohne Reich auf; sie ließ die Schriftstücke liegen, vielleicht fand sie mit wacherem, ausgeruhtem Blick doch noch etwas. Sie trat aus dem Erker, in dem sie gelesen hatte, und trat auf die Galerie hinaus, die in einer Spirale über die einzelnen Stockwerke hinunter zu ebener Erde führte.
Außer ihr war niemand mehr da; sie war erst einige Schritte gegangen, als Pong sie mit den Klauen an den Perlen zupfte, die in ihr Haar geflochten waren. »Seiya, warte.«
»Stimmt etwas nicht?« Sie blieb alarmiert stehen.
»Ganz und gar nicht!« Sie sah aus dem Augenwinkel die erregten bunten Wellen, die über seine Schuppen flogen, und hörte das angespannte Trillern seiner Zunge. »Sieh doch nur!« Er wies mit der Schwanzspitze in eine bestimmte Richtung.
Seiyas Blick folgte dem Hinweis. »Ich sehe nichts.«
»Eben!«
»Hm?!«
»Geh näher hin!«
Seiya folgte Pongs Anweisung und ging auf einen der kleinen Erker zu, die den Turm des
Gedächtnisses
schmückten. Sie gab sich Mühe, aber sie verstand einfach nicht, was Pong von ihr wollte.
»Das musst du mir erklären.«
Der Drache keckerte unwirsch. Er stieß sich von den Schultern der Exilkönigin ab und glitt auf seinen Flügeln bis zur Wand, wo er sich mit seinen nadelspitzen kleinen Klauen festkrallte – und begann, auf ihr zu gehen: »Na?«
Seiya blinzelte einmal, zweimal, verwirrt: Ihre Augen sagten ihr, dass Pong sich auf ebenem Grund bewegen musste, doch das tat er offensichtlich nicht: Hinter einer kleinen Schmucksäule verschwand er einfach.
Und dann begriff sie:
Lügen-Gebäude!
Häuser, die so geschickt entworfen waren, dass sie den Betrachter über ihre tatsächliche Bauweise optisch täuschten. Mehr Stockwerke – oder weniger; schräge Wände – oder gar keine; Eingänge, durch die man nur nach draußen trat; Zimmerfluchten, in die man nicht gelangen konnte, weil sie an sich selbst vorbeiführten. Seiya schüttelte den Kopf – sie hatte darüber gelesen, aber noch nie ein solches Gebäude betreten. Oder doch? Schließlich hatte sie sich hier täuschen lassen und hätte nichts gemerkt, wenn der kleine Drache sie nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.
Sie folgte Pong, nachdem sie ihren Verstand überzeugt hatte, dass sie nicht gegen eine Wand stoßen würde, und da fiel es ihr tatsächlich wie Schuppen von den Augen. Jetzt sah sie es auch. Die Bauweise dieser Erker verbarg, dass es einen mehr von ihnen gab. Seiya hätte es nie bemerkt, hätte sie jetzt nicht davorgestanden – vor einer Tür aus weißem Holz, das Schloss ein ziselierter Lawantenkopf aus Eisen mit weit aufgerissenem Maul.
»Was wohl dahinter ist?«
Pongs Schuppen sprühten bunte Funken. »Lass uns nachsehen!« Er wollte sich eben auf Seiyas Schulter niederlassen, als eine Stimme dazwischenfuhr.
»Hoheit, was Ihr dahinter findet, wird für Euch kaum von Belang sein.«
Pong quietschte auf und wäre fast gefallen; seine Klauen krallten sich in Seiyas schwarzes Haar. Sie verzog keine Miene und drehte sich zu dem Archivar um. »Ihr habt mich erschreckt mit Eurer lautlosen Annäherung.«
Carlim lächelte spiegelglatt: »Das war nicht meine Absicht. Ich wollte Euch nur abhalten, Eure Zeit mit Verwaltungsdokumenten zu vergeuden.«
»Verwaltung?«
»Ein Verzeichnis über die hier aufbewahrten Schriften mit einem Vermerk von Quelle oder Überbringer. Kaum von Belang für Suchende, deswegen bleibt dieser Bereich für sich.«
»Verstehe.«
»Erlaubt mir, Euch nach unten zu begleiten.«
5.
As’mala zog sich in die rötlichen Schatten des Gangs zurück; ihre Gedanken sprangen wild durcheinander. Flucht nach vorn – unmöglich. Spätestens auf der halben Höhe der Treppe wäre sie entdeckt. Kämpfen – gegen alle? Mit dreien, vieren hätte sie es aufgenommen. Aber zwölf? Sie war nicht feige, aber sie war sicher, dass sie ihre Kräfte noch anderweitig brauchen würde – für etwas, das wirklich wichtig war. Für Nur-Eins. Wer konnte wissen, was ihr noch auf dem Weg begegnen würde, von hier nach dort.
Und diese traurigen Gestalten – wozu? As’mala musste ihnen nicht begegnen. Wenn sie vernünftig waren und es nicht erzwangen.
Also: Verstecken. Die ehemalige Meisterdiebin bewegte sich weiter zurück, die Augen immer wieder zur Treppe gerichtet – der kleine Trupp musste gleich dort sein.
Die Schnecken schienen völlig unbeeindruckt von der plötzlichen Unruhe. As’mala stieg eilig über sie hinweg; ihr Ziel war der Gewebewald von
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