Susan Price
Zorn des Jungen. Er führte einen Schlag gegen Elfling, war aber – obwohl jung und flink – zu langsam. Elfling wich mühelos seitlich aus und stellte sich der nächsten Attacke des Jungen. Als dieser angriff, holte sein Arm mit dem Schwert blitzschnell aus, um den Todesstreich zu führen. Er brauchte seine gesamte Muskelkraft, um den Streich abzulenken und den Jungen unverletzt zu lassen. Er wusste, dass er den Jungen töten würde, wenn er das Schwert in der Hand behielt – und die Wut in ihm frohlockte bei diesem Gedanken. Einen Moment lang wollte er den Jungen töten.
Er öffnete die Hand und ließ Wodens Versprechen los. Mit beinahe musikalischem Ton landete es auf dem Boden. Als der Junge ihn erneut angriff, fing Elfling seinen Schwertarm ab und drehte ihn nach oben und hinten. Der Junge fiel zu Boden und rang nach Luft. Elfling trat auf seinen Schwertarm, beugte sich hinab, entrang das Schwert der Hand und schleuderte es beiseite.
»Ich will dich nicht töten«, wiederholte er.
Jarnseaxa hob Wodens Versprechen auf und hielt es Elfling entgegen. »Wenn du es unblutig zurück in die Scheide steckst, wirst du nicht leben, um es erneut zu ziehen.« Dann blickte sie auf Wulfweard auf dem Boden.
Elfling nahm Wodens Versprechen und schaute sie an. Sie blickte ihm in die Augen und lächelte. Seine Gebieterin wollte, dass er den Jungen tötete.
Er blickte auf Wulfweard hinab – seinen Feind und einen Bruder der Familie, die seine Leute, seine Familie, umgebracht hatte. Er packte Wodens Versprechen fester und schwang es über dem hingestreckten Jungen.
DAS WEBEN
Auf den Ruf der edlen Frau hin schritt Wulfweard vorwärts, und die Menge, die sich um ihn gedrängt hatte, verblasste wie Geister. Die Wände des großen Raums über ihm schienen sich zu falten und zu verändern, zugleich aber blieben sie feste Wände, wenn er sie anschaute. Die Andersheit der Anderswelt machte ihn schwindlig.
Er schritt vorwärts durch eine Halle. Er spürte, dass sie voller Menschen war, doch seinen Augen erschien sie leer. Und dann stand vor ihm ein großer junger Mann, nackt und langhaarig, ein stumpfes Schwert in der Hand. Nach einem Wimpernschlag voll Angst oder Erleichterung oder Hoffnung hielt er den Mann für einen seiner Brüder. Und dann sah er, dass er es selbst war. Und dann war er es selbst, und er war nicht nackt, sondern ein Mann, der ihm ähnlicher war als seine Brüder. Das Haar zu beiden Seiten des Gesichts dieses Mannes war zu mehreren feinen Zöpfen geflochten, der Rest hing lose bis über die Schultern. Der Körper war dünn, man sah deutlich die Mulden bei den Schlüsselbeinen, die Rippen und die Hüftknochen, aber auch muskulös. Und – nackt und bewaffnet mit einem Schwert – das beschwor Erinnerungen an alte Geschichten von Kriegern der Anderswelt, welche mit den Walküren ritten, sich Woden geweiht hatten und in Gestalt von Bären und Wölfen kämpften. Wulfweard zitterte vor kalter, abergläubischer Furcht, die in jeden wie kaltes Wasser einsickern kann, sogar in jemanden, der zum Kampf bereit ist.
Und dann sagte die edle Frau, offensichtlich amüsiert: »Das ist der Bastard, der deinen Bruder Hunting ermordet hat. Das ist das Halbwesen, dessen Kopf du haben wolltest. Jedenfalls hast du das geschworen.«
Seine Wut wuchs ständig, obgleich er befürchtet hatte, sie würde schwinden: Wut über den Verlust des Bruders, Wut über die Überheblichkeit dieses … Dings , es zu wagen, zu einem Mitglied der Zwölfhundert zu sprechen, ganz zu schweigen, es zu töten; aber als das Ding redete und sich seinen Bruder nannte, wünschte er sich aus vollem Herzen, es zu töten, und zog sein Schwert aus der Scheide. Doch als das Schwert erhoben war, erwies es sich als schwierig, die Klinge gegen diese Gestalt zu führen – ob ihn eine Art von Liebe wegen der Ähnlichkeit mit ihm hinderte oder die Angst vor einem Geschöpf, das so sehr den geschnitzten Geisterkriegern im alten Götterhaus ähnelte, wusste er nicht.
Aber er war hergekommen, um das Ding zu töten. Er konnte nicht zurückgehen – falls das überhaupt möglich war für ihn – und bekennen, dass er Angst gehabt hatte, es anzugreifen. Man würde ihn einen Feigling und Wortbrüchigen nennen. Und da das Ding nackt war, ohne Schild oder Helm, nur mit einem Schwert bewaffnet, würde es leicht sein. Wulfweard holte für den Todesstreich aus.
Sein Hieb traf nichts. Das Ding, gegen das er kämpfte, dieses Geschöpf aus der Anderswelt, war schlichtweg vor
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