Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
allerlei düstere Prophezeiungen aus. Alle Stationsschwestern sollten wahre Teufel sein, wegen jeder Kleinigkeit aufbrausen und die Probeschwestern ohne jeden Grund der Schulleitung melden, wenn ihnen etwas nicht paßte. »Ich habe Angst«, bekannte Hilda offen.
»Unsinn!« Hildas Kleinmut bewirkte es, daß Susy ihre Zuversicht wiedererlangte. »Bis jetzt war es doch auch nicht so schlimm.«
Hilda blieb stehen und lehnte sich schwer atmend an das Treppengeländer. »Warten Sie - einen Augenblick. Sie - rasen ja - wie ein D-Zug die Treppe rauf. Nicht schlimm, sagen Sie? Finden Sie etwa, daß der Unterricht bei Fräulein Cameron ein Vergnügen war?«
Susy lachte. »Das gerade nicht. Wir wurden ja vorher auch genügend gewarnt. Aber vor der Station hat uns niemand gewarnt. Also brauchen wir uns auch nicht zu fürchten.«
»Ich bin gewarnt worden«, entgegnete Hilda, die wieder zu Atem gekommen war, in unheilverkündendem Ton.
Sie gingen weiter. Im zweiten Stockwerk sahen sie einen Wegweiser mit der Aufschrift »Station 23«. Sie bogen in einen Korridor, gingen an einem Wäschezimmer vorbei und standen in der Tür des Krankensaales. Susy atmete heftig, während Hilda leise stöhnte.
Der Saal war voller Frauen. Einige wanderten in roten wollenen Morgenröcken umher, andere saßen teilnahmslos und müßig auf Stühlen. Von manchen, die im Bett lagen, sah man nur die Gesichter. Das Sonnenlicht schien in schrägen Strahlen über die weißen Betten an der Wand. Es lag in goldenen Vierecken auf dem braunen Fußboden und glänzte matt auf Stuhllehnen und Tischplatten. Gedämpftes Stimmengemurmel erfüllte den Raum. Es roch stark nach Seifenlaug e .
Am anderen Ende des Saales waren zwei Schwestern mit Bettenmachen beschäftigt. Eine dritte saß in der Mitte an einem Schreibpult. Susy durchfuhr ein freudiger Schreck. Das Gesicht kannte sie doch! Die klare Linie des Profils, das Grübchen im Kinn - kein Zweifel, es war die Lernschwester mit dem schwarzen Band auf der Haube, die vorhin auf dem Korridor mit den Mädchen gesprochen hatte.
Nun würde alles gut gehen. Froh eilte Susy auf den Schreibtisch zu, während Hilda ihr zögernd folgte. »Guten Tag! Wir wollen uns zum Dienst melden.«
Die Stationsschwester blickte auf. »Guten Tag«, sagte sie herzlich. Dann erkannte sie Susy. In ihren klaren grauen Augen, die von langen schwarzen Wimpern beschattet wurden, erschien ein warmes Leuchten. »Sieh da! Sie sind also eine meiner Probeschwestern. Darf ich um Ihre Namen bitten?«
»Ich heiße Hilda. Grayson«, stellte Hilda sich eilig vor. Ihre Meinung von Stationsschwestern schien sich ganz plötzlich geändert zu haben.
»Ich heiße Susanne Barden.«
»Danke. Ich bin Schwester Waring. Warten Sie mal - auf diesem Zettel ist Ihre Dienstzeit notiert. Um halb fünf ist Ihr Dienst zu Ende. Himmel! Bis dahin muß ich Sie irgendwie beschäftigen. Und Sie dürfen nichts tun, ehe Sie nicht bei Fräulein Cameron gelernt haben, wie es gemacht wird.« Sie hob nachdenklich die rechte Augenbraue, während die Mädchen sie wie verzaubert ansahen. Schließlich stand sie auf. »Ich werde Sie zuerst einmal den anderen Schwestern vorstellen.«
In der Küche wurden sie mit einer kleinen dunkelhaarigen Schwester namens Harris bekannt gemacht. Sie war damit beschäftigt, Gabeln, Messer und Löffel auf Messingtablette zu legen und diese übereinander zu stapeln. Sie sagte ein paar freundliche Worte zu den beiden Mädchen, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Dann begrüßten Susy und Hilda die Schwestern, die im Saal Betten machten. Die eine, ein großes grobknochiges Mädchen mit rotblonden Haaren und einem sommersprossigen Gesicht, trug das »Schnür- band« auf ihrer Haube. Sie war also die Dienstälteste der Station. Sie hieß Schwester Weiss. Die andere, Schwester Folsom, trug noch die blaue Tracht der Probeschwestern, hatte aber schon ihre Haube. Beide Schwestern nickten Susy und Hilda freundlich zu, während sie mit ihrer Arbeit fortfuhren.
»Schwester Grayson«, sagte Schwester Waring mit ihrer klaren angenehmen Stimme, »gehen Sie bitte in die Küche und helfen Sie Schwester Harris.«
Hilda eilte diensteifrig davon.
»Und Sie können eine Patientin zur Röntgenstation begleiten, Schwester Barden. Es ist nichts weiter dabei«, fügte sie beruhigend hinzu, als sie Susys ängstliches Gesicht bemerkte. »Sie haben überhaupt nichts zu tun. Der Krankenpfleger fährt die Patientin hin. Sie brauchen nur mitzugehen und vor dem Laboratorium zu
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