Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
Plötzlich holte sie tief Atem und faltete die Hände auf dem Rücken.
Zum erstenmal sahen Kit und Susy diese Geste an ihr, die ihnen später vertraut werden sollte.
»Habt ihr jemals in einer stürmischen Nacht auf einer Brücke gestanden?« Connies erregte Stimme übertönte die Jazzmusik. »Der Wind heult unter dem Brückenbogen, die Pfeiler kreischen und jammern, die Haare werden dir ins Gesicht geweht. Das Brückengeländer ist schwarz und blank und sehr kalt. Da ist nichts Tröstliches um dich her, nur heulender Wind und erbarmungsloser kalter Regen.
Du fühlst dich von aller Welt verlassen. Endlich - wenn du hinunterschaust - über das Geländer, fragst du dich - ob es sehr weh tun würde - wenn du - hinuntersprängest - ins Ungewisse ...« Sie stockte. Kit und Susy starrten sie verwundert an. Franziska klappte ihr Buch zu, sprang auf und lief aus dem Zimmer.
Connie wandte sich vom Fenster ab. »Wie war ich?«
»Du warst nur allzu gut.« Kit schauderte. »Ich bin heilfroh, daß ich hier im Zimmer sitze, wo es warm und gemütlich ist. Du hättest Franziskas Gesicht sehen sollen! Es hatte einen phantastischen zartgrünen Ton. Was war nur plötzlich in dich gefahren, Connie?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Connie ernst. »Es überkam mich einfach.«
»Den Eindruck hatte ich auch«, sagte Susy. »Es war jedenfalls sehr wirksam. Ich hoffe, Franziska hat eine angenehme Nacht voller Alpträume. Du kannst einem wirklich das Gruseln beibringen, wenn du so sprichst, Connie.«
»Findest du?« Connie strahlte, als hätte man ihr großes Lob gespendet.
Die beiden anderen schüttelten die Köpfe.
»Geh jetzt lieber zu Bett, mein Kind«, riet Kit. »Sonst beginnst du noch, Fliegen aus der Luft zu fangen und deine Finger zu zählen.«
Sie verließen das Wohnzimmer Arm in Arm und gingen mit dem Bewußtsein schlafen, ein gutes Werk vollbracht zu haben. Sie dachten mit keinem Gedanken darüber nach, wie sie sich aus der schwierigen Lage befreien sollten, in die sie sich gebracht hatten. Ihr sanfter Schlummer wurde durch keinerlei Gewissensbisse gestört. Susy erwachte am nächsten Morgen wie immer von dem Schrillen der Klingel. Ein Weilchen lauschte sie schlaftrunken auf den Aufbruch der Schwestern, die vormittags Dienst hatten. Dann zog sie mit einem glücklichen Seufzer die Decke dichter um ihre Schultern und glitt noch einmal in süßen Schlummer, aus dem sie erst durch Connie gerissen wurde, die angezogen vor ihr stand.
»Steh auf, Susy! Es ist kurz vor elf. Franziska ist in Hildas Zimmer gegangen, hat es leer gefunden und ist verzweifelt. Daß es erlaubt ist, außer Haus zu schlafen, wenn der Dienst es zuläßt, ist ihr offenbar nicht eingefallen. Sie geht unaufhörlich in ihrem Zimmer auf und ab und muß allmählich einen Pfad auf ihrem Läufer ausgetreten haben.«
Susy sprang aus dem Bett. »Ach, du lieber Himmel! Hilda wird gleich erscheinen. Wie können wir sie nur daran hindern, alles auszuplaudern?«
»Das ist deine Sache, mein kluges Mädchen«, antwortete Kit von der Tür her. »Ich sagte bereits gestern voraus, daß wir damit Schwierigkeiten haben würden. Aber du wolltest die Sache ja in die Hand nehmen.«
»Ich danke euch, daß ihr mich so lieb unterstützt.« Susy zog sich hastig an. Aber plötzlich hielt sie erschrocken inne.
»Glaubt ihr, daß Franziska zur Schulleitung gehen wird?«
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete Connie. »Sie hat sicherlich Angst, sich in Unannehmlichkeiten zu bringen.«
»Hoffentlich! Kommt, ich bin fertig.«
Sie liefen die Treppe hinunter, um Hilda am Eingang abzufangen. Es war auch die allerhöchste Zeit. Als sie den letzten Treppenabsatz erreicht hatten, traf Hilda gerade ein.
Die drei begrüßten sie mit großem Hallo, fanden aber nicht gleich eine Gelegenheit zu Erklärungen, denn im Korridor wimmelte es von Lernschwestern und Probeschwestern. Zu Hildas leichtem Erstaunen begleiteten die Mädchen sie in ihr Zimmer und saßen eine Weile bei ihr herum. Aber das Glück hatte sie verlassen. Eine Lernschwester kam herein und machte es sich auf dem Bett bequem, sie war einfach nicht loszuwerden und begleitete sie schließlich auch in den Speisesaal.
Susys Gedanken jagten sich. Es ärgerte sie, daß Kit und Connie ihr vorwurfsvolle Blicke zuwarfen. Schließlich hatte sie keine Schuld daran, daß sie in der Klemme saßen. Jetzt war es zu spät, Hilda aufzuklären, selbst wenn sich noch eine Gelegenheit dazu geboten hätte. Die einzige Hoffnung - eine sehr
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