Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
Wandschirm um das Bett zog. »Wie gefällt Ihnen denn der Schwesternberuf?«
»Sehr, sehr gut«, antwortete Susy ernst. Fräulein Camerons Lehren klangen ihr in den Ohren, als sie die Bettdecke der Patientin zurückschlug. Sie legte das sterile Handtuch, in dem sich die Instrumente befanden, in der vorgeschriebenen Weise hin. Sie entfernte den Verband, öffnete ein Paket mit Gazetupfern und ließ diese auf ein steriles Handtuch fallen. Zum Schluß stellte sie einen Eimer neben das Bett.
»Sehr nett«, lobte Dr. Barry. Er entfernte die alte Gaze, die auf der Wunde lag, mit einer Pinzette und warf sie in den Eimer. »Keine Angst, Fräulein Colemann! Es geht ganz schnell.«
Fräulein Colemann bewegte sich unruhig. »Wollen Sie die Fäden rausziehen, Doktor?«
»Sie werden fast gar nichts spüren«, sagte Susy schnell. »Es tut nicht weh, wenn es richtig gemacht wird.« Sie legte ihre warme Hand beruhigend auf die abgemagerte Hand der Patientin. Plötzlich war sie nicht mehr Susanne Barden, sondern Fräulein Colemann. Sie fühlte das Gewicht der Bettdecke auf ihren Füßen, die Glätte des Lakens unter ihrem Rücken, die Müdigkeit vom langen Stilliegen und die angstvolle Erwartung des Schmerzes. Von Herzen mitfühlend blickte sie auf die Patientin hinunter. Fräulein Colemanns Finger klammerten sich um ihre Hand. Ihre Züge entspannten sich, und sie lächelte dankbar.
Dr. Barry hatte Susy nicht aus den Augen gelassen. »Sie tun das gern, nicht wahr?«
»Ja.«
Ein paar Minuten lang wurde nichts gesprochen. Dr. Barrys Hände bewegten sich geschickt und behutsam. Susy brachte eine Schüssel mit Alkohol und legte noch mehr Tupfer zurecht. Während Dr. Barry dann nach einem kurzen Schnippen der Schere rasch und sicher mit der Pinzette die Fäden herauszog, plauderte er mit Fräulein Colemann. Er stellte ein paar Fragen an sie, neckte sie ein wenig und lachte. Fräulein Colemann lag jetzt ganz ruhig und sah vertrauensvoll zu ihm auf.
Nachdem sie wieder verbunden und zugedeckt worden war, brachte Susy die Instrumente zum Sterilisieren hinaus. Dr. Barry folgte ihr.
»Das haben Sie fein gemacht, Schwester Barden«, sagte er. »Ich glaube, Sie haben den richtigen Beruf gewählt. Sie werden bestimmt mal eine gute Operationsschwester werden.«
Susy errötete vor Freude. »Woher wollen Sie das wissen? Jeder Mensch kann einen einfachen Verband machen.«
Er lehnte sich gegen das Fensterbrett und betrachtete sie. »Es kommt darauf an, wie man etwas macht. Sie sind sehr flink, aber nicht aus Nervosität, sondern weil Ihr Verstand schnell arbeitet.« Er schwieg und fragte dann plötzlich: »Ihre Probezeit ist bald um, nicht wahr?«
» Ja.«
»Ihnen ist wohl angst und bange zumute?«
»Ja, sehr.«
»Sie brauchen keine Furcht zu haben.«
»Aber Fräulein Cameron .«
Er lachte. »Fräulein Cameron tut Ihnen nichts. Sie ist ein großartiger Mensch - die Gerechtigkeit in Person.«
»Das sagt Schwester Waring auch. Aber ich kann es eigentlich nicht finden. Wenn sie wenigstens manchmal eine kleine menschliche Schwäche zeigte! Es ist so schwer, ihr etwas recht zu machen. Die ganze Klasse zittert vor ihr. Und dann ist sie ausgesprochen unvernünftig. Sie verlangt unmögliche Dinge von uns.«
»Finden Sie? Sie verlangt das Unmögliche - und Sie vollbringen es. Ist es nicht so?«
Susy sah ihn überrascht an. »Ja, Sie haben recht; so ist es wirklich; wir glauben, wir können es nicht, aber dann können wir es doch.«
»Sehen Sie! Und in einer wirklich schwierigen Situation werden Sie Fräulein Cameron immer menschlich und gerecht finden. Sie verlangt nämlich gar nicht das Unmögliche. Sie verlangt nur das Äußerste, dessen Sie fähig sind.«
»Wie kommt es, daß Sie Fräulein Cameron so gut kennen?«
Er lächelte. »Ich hatte schon immer viel von ihr gehört. Das ist ja unvermeidlich. Eines Tages sah ich sie wie einen Racheengel vor mir durch den Korridor fegen. Ich dachte, daß es sich lohnen müßte, ihre Bekanntschaft zu machen, und sprach sie an. Seitdem sind wir gute Freunde. Sie ist wunderbar.«
Susy dachte nach diesem Gespräch noch oft an Dr. Barrys Worte. Wenn sie Fräulein Cameron doch in dem gleichen Licht sehen könnte wie er! Das würde ihr manches erleichtern. Nun, vielleicht gelang es ihr eines Tages.
Dieser Tag schien jedoch noch sehr fern zu sein. Am nächsten Morgen hatte sich Fräulein Cameron anscheinend vorgenommen, Susys Zweifel zu rechtfertigen und zu beweisen, daß Dr. Barry sich in ihr geirrt
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