Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
Cameron sah sie drohend an. Kit stürzte hinaus, kam mit dem Gummilaken zurück und legte es über die beiden Wolldecken auf die Krippe. Darüber kamen wieder zwei Wolldecken. Die unterbrochene Tätigkeit tat Kit gut, und sie begann ein wenig zuversichtlich zu werden.
»Was ist das?« ertönte es plötzlich scharf.
Kit richtete sich erschrocken auf. Fräulein Cameron deutete vorwurfsvoll auf eine große Flasche mit Quecksilberchlorid, die neben anderen Dingen auf dem Tisch stand.
»Ich - ich dachte, es wäre die Spiritusflasche, Fräulein Cameron.«
»Dachte! Dachte! Nehmen Sie sich gefälligst zusammen!
Krankenschwestern dürfen keine Irrtümer unterlaufen. In diesem Beruf ist kein Platz für junge Mädchen, die nichts als Unsinn im Kopf haben.«
Kit, nur von dem Wunsch beherrscht, den Stein des Anstoßes aus dem Weg zu räumen, griff unwillkürlich nach der Flasche.
»Schwester van Dyke!«
Kit fuhr zusammen. Die schwere Flasche entglitt ihrer Hand und zerschellte krachend auf dem Boden. Auf den Krach folgte entsetztes Schweigen. Das Quecksilberchlorid floß langsam über das Podium, tröpfelte über die Kante auf den Fußboden des Klassenzimmers und bildete dort einen Tümpel, der sich allmählich vergrößerte. Kit und die anderen Schülerinnen starrten wie gebannt darauf hin.
»Holen Sie einen Scheuerlappen.«
Kit ging wie im Traum aus dem Zimmer und kam mit einem Scheuerlappen wieder. Irgendwie brachte sie es fertig, den Boden aufzuwischen und die Scherben der zerbrochenen Flasche aufzulesen.
»Schneiden Sie sich nicht!« sagte Fräulein Cameron nur einmal. Das war alles.
Kit fuhr mechanisch mit ihrer Vorführung fort. Sie wußte kaum noch, was sie tat. Jede ihrer Bewegungen wurde durch die angespannte Konzentration der gesamten Klasse bestimmt. Schließlich stand der kleine Spiritusofen mit dem eckigen Asbestrohr am Fuß des Bettes. Kit zog die Wolldecken um ihn herum, kniete nieder und steckte mit zitternden Händen ein Streichholz an. Aber der Docht brannte nicht. Sie steckte ein zweites und ein drittes Streichholz an, doch vergeblich. Nun riß Fräulein Cameron ihr wortlos die Streichholzschachtel aus der Hand und versuchte es selber. Aber sogar ihr Widerstand der eigensinnige Docht.
Die Klasse blieb äußerlich ernst. Innerlich aber vereinigte sie sich in einem breiten schadenfrohen Grinsen.
Endlich ergriff Fräulein Cameron den Spiritusbehälter und schüttelte ihn. Dann schraubte sie den Verschluß ab und roch daran.
»Einreibespiritus!« donnerte sie. »Haben Sie den Behälter gefüllt, Schwester van Dyke?«
»Nein, Fräulein Cameron. Er war bereits gefüllt«, stammelte Kit, bestrebt, jede Beziehung zu dem Ofen weit von sich zu weisen.
»Gehen Sie hinaus und füllen Sie ihn mit Brennspiritus.« Fräulein Camerons Blick schien Kits Schulterblätter zu durchbohren, während diese aus dem Zimmer eilte.
Endlich brannte der Ofen. Kit legte Luise einen Eisbeutel auf den Kopf. Fräulein Cameron ging ans Bett und griff unter die Decken, um nach dem Thermometer zu sehen. Das Thermometer war nicht da.
Die Klasse war vor Entsetzen wie gelähmt.
Fräulein Cameron hielt Kit offenbar jeder weiteren Beachtung für unwürdig. »Schwester Barden, holen Sie bitte das Thermometer.«
Susys Herz wurde eiskalt. Während sie von ihrem Stuhl aufstand, versuchte sie sich verzweifelt daran zu erinnern, wo das Thermometer aufbewahrt wurde. Sie durfte sich ihre Unsicherheit auf keinen Fall anmerken lassen. Instinktiv ging sie auf den Klassenschrank zu und öffnete ihn mit selbstbewußter Miene. Hoffentlich befand sich das Thermometer darin! Die anderen Schülerinnen reckten die Hälse. Fräulein Cameron machte ein undurchdringliches Gesicht.
Das Thermometer war nicht in dem Schrank. Susy hatte es am falschen Platz gesucht. Nun wußte Fräulein Cameron, daß sie keine Ahnung hatte, wo es aufbewahrt wurde. Aber Susy wollte sich noch nicht geschlagen geben. Jetzt konnte sie nur noch im Dienstzimmer und im Wäschezimmer suchen. Sie eilte hinaus und durchstöberte hastig die Fächer in beiden Zimmern, fand das Thermometer jedoch nicht.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zurückzugehen und ihre Unwissenheit zu gestehen. An der Klassentür stockte ihr Schritt. Sie hatte das Gefühl, eine Guillotine zu betreten.
»Ich - ich kann es nicht finden, Fräulein Cameron.«
»Bringen Sie sofort das Thermometer her!«
Susy floh in das Dienstzimmer zurück und versuchte verzweifelt, ihre Gedanken zu sammeln. Wo blieb
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