Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
hatte. Sie war schwieriger als je. Schon fünfzehn Minuten nach Beginn des Unterrichts zitterte die ganze Klasse vor Nervosität.
Fräulein Cameron pflegte ihren Schülerinnen über jedes Verfahren einen ausführlichen Vortrag zu halten. Sie erklärte jede einzelne Bewegung und zählte alle Gegenstände auf, die dazu gebraucht wurden. Dann führte sie die Prozedur selber vor, und zwar an Marie, der Gummipuppe, als Patientin. Jetzt fanden die Mädchen Marie nicht mehr komisch. Sie beneideten sie vielmehr. Marie konnte nichts falsch machen.
In ihrer Freizeit prägten sich die Schülerinnen den Gang des Verfahrens an Hand ihrer Notizen ein. Am nächsten Morgen rief Fräulein Cameron dann eine von ihnen auf. Diese mußte zu ihr aufs Podium kommen, die Vorführung wiederholen und Erklärungen dazu geben. Fehlte auch nur ein einziger Gegenstand, wurde auch nur eine einzige Bewegung zur unrechten Zeit gemacht, so zog sich die unglückliche Probeschwester den ganzen Zorn Fräulein Camerons zu.
An diesem Morgen forderte die Lehrerin Elfe Holton auf, einen Leinsamenumschlag zu machen. Ihre Augen blickten kalt. Das bedeutete nichts Gutes, wie die Klasse aus Erfahrung wußte. Elfe warf einen verstohlenen Blick auf ihre Notizen und eilte dann aus dem Zimmer, um die Dinge zu holen, die zu dem Umschlag gebraucht wurden. Fräulein Camerons Augen verfolgten sie mit furchterregender Schärfe. »Die Teilnehmer des vorhergehenden Kursus müssen irgendwas verkehrt gemacht haben«, sagte Kit flüsternd zu Susy.
Fräulein Cameron fuhr herum. »Haben Sie etwas zu sagen, Schwester van Dyke?«
Kit, der keine vernünftige Antwort einfallen wollte, starrte sie versteinert an.
»Nun? - Nichts! Dies ist kein geselliges Beisammensein, Schwester van Dyke. Sie sind zum Lernen hier - falls Sie dazu fähig sein sollten. Wenn Sie etwas zu sagen haben, wenden Sie sich bitte an mich!« Ihr Mund klappte zu.
»Ja, Fräulein Cameron.«
Nun kam Elfe aufgeregt in die Klasse zurück. Fräulein Cameron betrachtete die Gegenstände, die sie trug, so mißtrauisch, als vermutete sie, eine Schlange darunter versteckt zu finden.
»Worauf warten Sie? Fangen Sie an!«
Mit zitternden Händen begann Elfe den Brei anzurühren. Fräulein Cameron beobachtete sie schweigend; die Klasse saß wie erstarrt da. Allmählich verbreitete sich ein Geruch von kochendem Leinsamen in dem warmen Raum. Elfe erklärte mit unsicherer Stimme, was sie tat. Fräulein Cameron saß reglos auf ihrem Stuhl, den Blick starr auf
Elfes Hände gerichtet. Als Elfe mit dem Brei fertig war, sah sie scheu zu ihr hin. Fräulein Cameron machte ein Gesicht, als wäre sie ihr am liebsten an die Kehle gesprungen. Hastig raffte Elfe ihre Sachen zusammen und floh aus dem Zimmer.
Fräulein Cameron wandte sich der Klasse zu. »Jetzt möchte ich ein Heißluftbad vorgeführt sehen.« Ihr Blick glitt über die in ängstlicher Spannung verharrenden Schülerinnen und blieb schließlich auf Kit haften, die sichtlich kleiner zu werden schien.
»Schwester van Dyke wird es tun. Schwester Wilmont soll die Patientin sein. Gehen Sie in Ihr Zimmer, Schwester Wilmont, und ziehen Sie ihr Nachtzeug an. Aber rasch!«
Luise und Kit sprangen gleichzeitig auf und eilten aus dem Zimmer, Luise munter und obenauf, Kit von Furcht getrieben.
Es war den Probeschwestern nicht gestattet, beim Zusammensuchen der Gegenstände, die sie für die Vorführung brauchten, ihre Notizen zu Rate zu ziehen. Sie mußten alles im Kopf haben. Kit blieb sehr lange fort. Susy und Connie wagten es nicht, einander anzusehen. Luise kehrte strahlend zurück. Versuchsobjekt bei einer Vorführung zu sein, bereitete keine Schwierigkeiten. Als Kit endlich erschien, warf Fräulein Cameron ihr einen vernichtenden Blick zu.
Anfangs verlief die Vorführung ohne Zwischenfälle. Luise legte sich ins Bett und deckte sich zu. Nachdem Kit ihre Ausrüstungsgegenstände vorschriftsmäßig geordnet hatte, bedeckte sie Luise mit einer Wolldecke, zog die Bettdecke darunter hervor und legte ein großes hölzernes Gestell, das »Krippe« genannt wurde, auf das Bett. Durch diese Krippe wurden die Betten über dem Körper des Patienten hochgehalten, so daß er in einer Art Höhle lag. Kit breitete zwei Wolldecken darüber und zog sie um Luises Schultern fest, um das Entweichen der heißen Luft zu verhindern. Am Fußende hingen die Decken frei herunter.
Plötzlich hielt Kit verwirrt in ihrer Tätigkeit inne. Sie hatte das große Gummilaken vergessen. Fräulein
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