Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
fuhr draußen ein Krankenwagen vor. Ein sehr alter Mann mit verrunzeltem Gesicht wurde auf einer Bahre hereingebracht. Er zitterte am ganzen Körper. Die Träger berichteten, er wäre auf der Straße zusammengebrochen. Sie trugen ihn in einen kleinen Operationsraum und legten ihn auf einen geheizten Tisch. Franziska verschwand.
Dr. Reeves, ein junger Assistenzarzt, hatte Dienst. »Das sieht nach Malaria aus«, meinte er. »Nehmen Sie sich bitte seiner an, Schwester Barden. Ich werde ihn nachher untersuchen.«
Susy maß die Temperatur des Alten, fühlte ihm den Puls, brachte Wärmflaschen und Wolldecken herbei. Als sie die Decke des Krankenwagens fortnahm, sah sie, daß er ein Holzbein hatte, und zwar eins von der billigen altmodischen Sorte, die man »Zahnstocher« nannte.
Seine Augen waren geschlossen, und er schien vollkommen erschöpft zu sein. Susy machte es ihm so behaglich wie möglich. Sie wollte gerade Dr. Reeves rufen, als der Greis seine runzeligen Augenlider hob und sie aus blaßblauen Augen anblinzelte. Die Operationslampe an dem langen beweglichen Arm schien voll auf sein Gesicht.
Susy schwenkte sie zur Seite. »Ist es so besser?« fragte sie sanft.
»Ja, danke.« Er sprach mit dem schwachen Pfeifton der sehr Alten.
>Der arme Kerl!< dachte Susy mitleidig. Sie beschloß, ein wenig mit ihm zu sprechen. Er sollte das Gefühl haben, daß jemand Anteil an ihm nahm.
»Haben Sie manchmal hohes Fieber?« fragte sie.
»Ja, Fräulein. Es ist Malaria. Ich bekam sie und verlor mein Bein, beides zur gleichen Zeit.«
»Wie kam das mit dem Bein?«
»Ich verlor es in Balaklava.«
»Balaklava?« wiederholte Susy unsicher. Der Name weckte eine verschwommene Erinnerung in ihr. Was hatte sie über Balaklava gelernt? Plötzlich war sie wieder ein Kind und saß in der Schulklasse, wo es nach Gummischuhen, Bananen und Dampfheizung roch. Sie hörte, wie ein Junge feierlich deklamierte:
»Wird je dein Ruhm vergehen?
Ehre der Leichten Brigade .«
Susy beugte sich hastig über den Alten. »Haben Sie am Krimkrieg teilgenommen?«
»Ja, Fräulein.«
»Doch nicht etwa in der Leichten Brigade?«
»Ich war damals erst zwölf, Fräulein - Trommelschläger. Aber ich sah die Attacke.«
»Einen Augenblick bitte!« Susy lief hinaus. »Dr. Reeves! Erinnern Sie sich an die Attacke der Leichten Brigade von Balaklava?«
Dr. Reeves sah von dem Anweisungsbuch auf. »Nanu? Wo brennt’s denn? Sie sind ja ganz außer Atem. Natürlich erinnere ich mich an das Gedicht.
In den Rachen des Todes,
In den Abgrund der Hölle
Ritten sechshundert .«
»Dr. Reeves!« unterbrach ihn Susy. »Dort drin - der alte Mann - er hat sein Bein bei Balaklava verloren. Er hat die Attacke der Brigade mitangesehen.«
»Was?«
Dr. Reeves sprang auf und hastete zu dem Operationsraum. Die Stationsschwester, die alles mitangehört hatte, lief ihm nach. Susy folgte ebenfalls. Franziska, die gerade aus einem Erholungszimmer kam, spürte die Aufregung und beschleunigte ihre Schritte, um zu sehen, was es gab. Bald standen die drei Schwestern und der junge Arzt um den Tisch herum, auf dem der erschöpfte Alte lag.
»Die Schwester erzählte mir soeben, daß Sie die Attacke der Leichten Brigade bei Balaklava miterlebt haben.«
Die trüben Augen blickten zu Dr. Reeves auf. »Ja, ich war dabei. Aber das ist lange her. Damals war ich ein junger Bengel. Jetzt bin ich zweiundneunzig.«
»Ja, natürlich. Können Sie uns erzählen, wie es war?«
Die müden Augen schlossen sich. Es entstand ein langes Schweigen. Dann taten die Augen sich wieder auf und wanderten über die weißen Wände des Operationsraumes.
»Es war nicht so wie hier«, sagte er leise. Und dann, nach einer kurzen Pause, mühsam und abgerissen: »Es war schlimm - nachts - die Hitze - wie eine heiße feuchte Decke - erstickend. Wir lagen auf der Erde - im Dreck - Hunderte. Manchmal - kam ein kühler Wind
- von den Bergen. Und wenn er kam, hoben alle die Köpfe ...«
Die Stimme erstarb. Die Augen schlossen sich wieder.
Weder Dr. Reeves noch die Schwestern rührten sich. Nach einer Weile zupfte die verrunzelte Hand des Alten an der Decke. In den sich öffnenden Augen erschien ein Leuchten.
»Dann kam sie - sie.«
»Wer kam?« fragte Susy heiser.
Der alte Mann bewegte sich ungeduldig. »Sie - unser Engel - Florence Nightingale.«
»Ach!«
Niemand wußte, wer den Ausruf ausgestoßen hatte. Die Augen der drei Schwestern wurden groß.
»Haben Sie - sie selber gesehen?«
»Natürlich sah ich
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