Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
Aber schon am nächsten Tag überkam Susy eine unendliche Müdigkeit, und sie wollte nur noch schlafen. Erst nach einer Woche wurde sie wieder munterer.
Dann gab es allerlei Vergnügungen, Einladungen und Tanztees. Ihre Freundinnen versicherten ihr, sie hätte sich überhaupt nicht verändert, sondern wäre immer noch die alte. Susy wunderte sich darüber. War sie doch keineswegs mehr dasselbe Mädchen, das vor einem Jahr von zu Hause fortgegangen war. Sie hatte in dieser Zeit arbeiten gelernt. Sie wußte jetzt, was es heißt, Verantwortung zu haben. Vor allem aber hatte sie sehr viel über die menschliche Natur und über sich selbst hinzugelernt. Nein, sie war durchaus nicht mehr die Susy von früher.
Anfangs hatten ihre Freundinnen sie nach dem Leben im Krankenhaus ausgefragt. Aber sie gab es bald auf, ihnen erklären zu wollen, wie es wirklich war. Die Vorstellung der Mädchen von diesem Leben wich so sehr von der Wirklichkeit ab, daß eine Verständigung fast unmöglich schien.
»Mußtest du stundenlang Böden scheuern? Sind die Stabsschwestern unausstehlich? Ist es nicht eine Erlösung, nach einem Jahr wieder einmal frei und ungebunden zu sein? Bist du bei deiner ersten Operation in Ohnmacht gefallen?«
»Ich habe noch keiner Operation beigewohnt«, antwortete Susy kurz.
»Du hast noch keine Operation gesehen? Was machst du denn eigentlich den ganzen Tag?«
Es hatte keinen Zweck. Susy sprach bald nicht mehr von ihrer Arbeit. Nach und nach rückte das Krankenhaus weiter in die Ferne, und schließlich kamen Tage, an denen sie überhaupt nicht mehr zurückdachte. Aber am Anfang der dritten Woche ihres Urlaubs hob sie eines Morgens den Telefonhörer ab und meldete sich geschäftsmäßig: »Station 2, Schwester Barden.«
Erst ein erstaunter Ausruf am anderen Ende der Leitung brachte ihr zum Bewußtsein, was sie gesagt hatte. Sie lachte und entschuldigte sich. Als sie den Hörer wieder auflegte, stand ihre Mutter in der Tür. Ihr sanftes Gesicht sah erschrocken aus. Ihre blauen Augen, die sonst immer warm aufleuchteten, wenn sie Susy ansah, blickten ängstlich.
»Susy! Du - deine Stimme klang plötzlich ganz anders - so fremd und weit entfernt. Ich wußte nicht .«
Susy lief auf ihre Mutter zu und umarmte sie. Innig drückte sie ihre feste Wange an die weiche Wange der Mutter, die ihre Kinderhände oft gestreichelt hatten.
»Aber Mammi! Ich bin niemals weit von dir entfernt. Das mußt du nicht glauben.«
Von diesem Augenblick an nahm das Krankenhaus wieder von Susys Gedanken Besitz. Was mochte sich in ihrer Abwesenheit dort ereignet haben? Würde sie vieles verändert vorfinden, wenn sie zurückkehrte? Wann würde der Unterricht wieder beginnen? Wo würde sie Dienst machen? Sie sehnte sich danach, wieder Tracht anzuziehen - Wintertracht diesmal - und das leise Quietschen ihrer Gummisohlen auf dem Linoleumboden zu hören. Sie glaubte fest, die frische Luft der Korridore zu atmen, Bohnerwachs, Seifenlauge und Äther zu riechen.
»Ich habe Heimweh nach dem Krankenhaus«, stellte sie fest. Sie fühlte sich jetzt vollkommen ausgeruht. Allerdings spürte sie hin und wieder den stechenden Schmerz in der Seite, und ihre Mutter klagte darüber, daß sie zu dünn wäre.
»Mußt du wirklich schon wieder fort, Kind?« fragte sie einen Tag vor Susys Abreise. »Fehlt dir auch nichts? Bleib doch noch einen Monat zu Hause.«
Susys Kopf steckte gerade in ihrem Schrankkoffer. Sie lachte leise. Was für ein Gesicht würde Fräulein Matthes wohl machen, wenn sie einen Brief mit der Mitteilung erhielte, daß Susy vorläufig nicht zurückzukehren gedächte!
»Nein, Mammi, ich muß fahren«, erklärte sie lächelnd, während sie aus den Falten eines Kleides auftauchte. War es unrecht von ihr, sich nach dem Krankenhaus zu sehnen? Susy dachte darüber nach. Ihr Elternhaus würde immer der liebste Platz in der Welt für sie sein. Es war eben ein ganz besonderer Platz. Aber ihr Leben gehörte jetzt dem Krankenhaus. Es war Zeit, daß sie zurückfuhr.
Als Susy am nächsten Tag im Zug saß und die Telegrafenstangen an sich vorübergleiten sah, erinnerte sie sich daran, wie ängstlich sie vor einem Jahr auf der gleichen Reise gewesen war. Die Furcht von damals erschien ihr jetzt unverständlich. Als der Zug schließlich in die Stadt einlief, begrüßte sie den verräucherten Bahnhof wie einen guten alten Bekannten. Im Krankenhaus angekommen, meldete sie sich zuerst bei der Schulleitung. Überall sah sie bekannte Gesichter. Sogar die
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