Sushi und Kartoffelbrei Ticktack
Dann entwickelte Carmen das Gefühl, selbst ein Recht auf eine berufliche Krise zu haben.
Schon so lange sie denken konnte, war Carmen verrückt nach Tieren gewesen. Sie gehörte zu jenen Leuten, die bei Einladungen immer erst auf den Hund oder die Katze des Hausherrn zustürzen, bevor sie Letzterem die Hand schütteln. Und Begeisterungsstürme lösten weniger die neue Küche oder ein gelungener coq au vin aus, als vielmehr das niedliche Pelzgesicht oder der süße Bauch des jeweiligen Haustiers. Ihrer Ansicht nach waren daran allein ihre Eltern schuld. Sie verabscheuten Tiere so sehr, dass der einzige Vierbeiner, den sie ihr je zugestanden, ein Meerschweinchen war, das in einem Käfig in der Garage sein Dasein fristete. Was sie jetzt, zum Leidwesen ihrer geplagten Familie, mit einer Horde von Hunden, Katzen, Vögeln, Kaninchen und gelegentlich sogar einer Schildkröte überkompensierte. Die Gepanzerten hatten jedoch die leidige Angewohnheit, zu verschwinden und nicht wieder aufzutauchen, mochte sie noch so oft mit perlrosa Nagellack ihre Telefonnummer auf deren Schilde malen. Als also die Große Berufskrise kam, entschloss sich Carmen, Tierärztin zu werden. Und jetzt besuchte sie nebenher entsprechende Kurse in der Hoffnung, nächstes Jahr an der Universität aufgenommen zu werden. Daisy fand, dass sie seitdem eine ganz neue Gelassenheit ausstrahlte. Die Haarreifen waren endlich passé, stattdessen trug sie jetzt immer einen Pferdeschwanz, der sie viel jünger aussehen ließ.
Bei Doris dagegen verliefen die Dinge weitaus katastrophaler.
Als ihr Lebensgefährte nach zehn Jahren den erwähnten Koffer packte – mit der Begründung, er wolle ›herausfinden, wer er wirklich war‹ – und auf Nimmerwiedersehen verschwand, da stürzte Doris in eine tiefe Depression. Nicht gerade hilfreich in dieser Situation war die Reaktion ihrer lieben Angehörigen, die ihr unbarmherzig vorhielten, die besten – und fruchtbarsten – Jahre ihres Lebens an einen Mann vergeudet zu haben, der sie weggeworfen hatte wie die Zeitung von gestern. Auch ließen sie sie all die öden Jobs in diversen Bekleidungsgeschäften nicht vergessen und wiesen sie auf das Einzige hin, was bei ihrem Traum, Modedesignerin zu werden, herausgekommen war: eine Mappe mit Zeichnungen.
Um dem übelkeitserregenden Cocktail aus familiärem Mitgefühl und Vorwürfen zu entrinnen, folgte Doris schließlich Carmen und Daisy nach Sydney. Dort würde sie zumindest nie mehr ihrem Ex-Partner über den Weg laufen und mit ansehen müssen, wie er sich in all ihren früheren Lieblingsrestaurants mit blutjungen Blondinen traf, um ›sich selbst zu finden‹.
Entschlossen, sich voller Energie in das Leben und Treiben der Millionenstadt Sydney zu stürzen, mietete sie ein Häuschen in den Hügeln des Stadtteils Glebe und fand einen Job als Zweigstellenleiterin einer Boutiquenkette namens ›Ascot Flair‹, die ausschließlich Festkleidung zu Hochzeiten und Schulfeiern anbot. »Alles Schrott«, gestand sie Carmen und Daisy, »aber ich will mir nicht zu viele Umwälzungen auf einmal zumuten. Ich bin’s gewohnt, Plunder zu verkaufen.«
Die genannten Umwälzungen fanden überwiegend an der privaten Front statt. Mittlerweile brüstete sie sich ganz offen mit dem, was sie ihre ›Fast-Food-Beziehungen‹ nannte: keine Komplikationen, keine emotionalen Bindungen. Es wurde für sie fast so eine Art Sport, die anderen beiden mit allen möglichen Geschichten über ihre diversen Liebhaber
zu schockieren, vom One-Night-Stand bis zur einwöchigen Kurzromanze.
Nicht, dass daran etwas auszusetzen wäre, sagte sich Daisy hastig – obwohl sie, um ganz ehrlich zu sein, gewaltig viel daran auszusetzen hatte. Nicht, wenn es jemanden glücklich machte. Aber Doris’ einst fröhliches Mondgesicht wirkte nun ausgesprochen hager. Ihre langen, glatten schwarzen Haare waren brutal kurz rasiert, um Wangenknochen zu unterstreichen, die früher nicht da gewesen waren. Und sie hatte angefangen, auf hektische, nervöse Art zu rauchen. Doch rauchte sie nie bei Tisch, wenn Daisy kein Sushi aß. Man konnte ja nicht wissen.
»Also, was ist nun mit dem Ring? Sicher kriegst du doch jetzt einen neuen?«, erkundigte sich Doris und zündete sich, da die Deluxe-Platte leergefegt war, eine Zigarette an.
Daisy hatte, kaum dass sie alle am Tisch saßen, die Tragödie von dem runtergespülten Verlobungsring zum Besten gegeben und war prompt mit Trost überschüttet worden. Wie schön, wenn man sich darauf
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