Svantevit - historischer Roman (German Edition)
Gedankenwelt seines jungen Gesprächspartners hineinversetzt und erklärte mit ruhiger Stimme: "Bücher sind wie Menschen. Sie können weise sein oder dumm, die Wahrheit sagen oder lügen, Frieden stiften oder Hass sähen, Menschen nützen oder schaden und …"
"Was ist das?" fragte Radik, der aus den Worten des Alten nicht die erhofften Antworten erhielt, naiv aber nachdrücklich.
Womar schlug das Buch auf und zeigte auf die Zeichen.
"Dies sind Buchstaben", er tippte mit dem Finger darauf, "Wörter", er zog den Finger über einige Buchstaben, "und Sätze", und fuhr mit dem Zeigefinger weiter, "Wie erkläre ich dir am besten, was Schrift ist?", er ging einige Schritte auf und ab, "Stell die vor, du möchtest jemanden etwas mitteilen, der weit weg ist. Du kannst ihn nicht selbst besuchen, aber jemand anderes schicken."
"Dann lass ich meine Worte ausrichten."
"Ja, ja. Aber dieser andere, dieser Bote, spricht nicht deine Sprache. Doch du hast Pergament" er wies auf eine einzelne Buchseite, die er zwischen seinen Fingern hielt "und Tinte." sein Finger schnellte auf einen Buchstaben. "Du musst die Nachricht also malen."
"Was soll ich denn malen", fragte Radik.
"Sagen wir einfach, du möchtest dich mit der anderen Person am nächsten Tag, nachmittags, in eurer Burg treffen."
Der Alte ging zum Schrank und holte ein kleines Kästchen heraus, dem er zwei kleine Kohlestückchen entnahm. Hinter dem Schrank holte er eine dunkle Tafel hervor, die er auf den Tisch legte.
"Dies ist jetzt dein Pergament", sagte er und gab Radik ein Stück Kreide. "Wie also teilst du ihm deine Nachricht mit?"
Radik überlegte kurz und begann dann schemenhaft die Burg zu malen, den Wall, das Tor und den Tempel. Darüber setzte er drei Sonnen: links, rechts und in der Mitte etwas unterhalb. Zwischen der mittleren und der rechten Sonne machte er ein Kreuz.
"Gut, gut!", rief Womar verblüfft, aber erfreut, "Du bist ein kluger Kopf!"
Er begann Radiks Zeichnungen mit einem feuchten Tuch wegzuwischen.
"Stell dir vor, der andere kennt die Burg nicht. Sag ihm, er muss nach Norden gehen, zwei Tage lang und am dritten Tag vor einem Wald nach Osten abbiegen."
Radik unterteilte die Steinfläche in zwei Hälften – rechts und links. Links trug er die Anzahl der Tage ein, rechts die Richtung, wobei er sich zur Darstellung jeweils der drei Sonnen bediente, die einen Tag oder, mit einem Pfeil versehen, die Richtung angaben. Ein Wald war schnell durch einige Stämme und ein dichtes Kronenwerk angedeutet.
"Nun gut."
Der Alte grübelte und grinste schließlich schelmisch.
"Sag dem anderen, dass du Radik heißt."
Radik lachte.
"Wer mich nicht kennt, dem schicke ich erst gar keine Botschaften."
Womar nahm das zweite Stückchen Kreide und begann, auf der Tafel Zeichen aufzutragen. Als er fertig war, trat er zurück und sein Lächeln verriet, wie er sich über Radiks ratlose Miene freute.
"Ich kann die Bilder nicht deuten", meinte dieser nach einer Weile entmutigt.
"Es sind keine Bilder im eigentlichen Sinne. Hier steht: ´Ich heiße Radik´".
Radik trat näher heran und beugte den Kopf, als könne er so etwas Übersehenes entdecken.
"Diese Art Bilder nennt man Schrift. Sie ist zusammengesetzt aus einzelnen Buchstaben."
Das Wort hatte Radik vorhin schon einmal gehört.
"Mit wenigen Buchstaben kann man alles aufschreiben, was man auch sprechen kann. Hier oben", Womar wies auf die obere Zeile, "steht der Satz in Latein. Und hier in Deutsch."
Das Wort ´Latein´ sagte Radik nichts, aber den Begriff ´Deutsch´ hatte er schon einmal gehört. Die Deutschen sind ein fremdes Volk, ähnlich wie die Dänen. Aber sie wohnen nicht hinter dem Meer im Norden, sondern im Westen, noch hinter den Obodriten.
"Das Auftragen der Buchstaben, die sich zu Wörtern und Sätzen aneinanderreihen, nennt man ´schreiben´ und das Deuten dieser Zeichen wird als ´lesen´ bezeichnet."
Er öffnete das Buch.
"Das alles heißt ´Schrift´."
"Ich habe davon noch nie gehört. Wie kommt es, dass du diese Dinge kennst, obwohl du hier allein im Wald lebst."
"Oh, ich bin ein alter Mann. Meine Zeit hier im Wald zählt viele Jahre – aber nicht mein ganzes Leben. Als junger Mensch habe ich viel von der Welt gesehen."
Er setzte sich auf seinen Stuhl und nahm den Becher, hielt kurz inne und leerte ihn dann in einem Zug. Auch Radik nippte an seinem Met.
"Was erzählt nun dieses Buch mit seinen Buchstaben?"
"Dies ist eine sehr alte Geschichte. Von einem mächtigen Herrscher und
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