Svantevit - historischer Roman (German Edition)
seinem Sohn."
Er schob das Buch zu Radik hinüber.
"Du solltest es vielleicht selbst lesen", sagte er und setzte angesichts Radiks fragenden Gesichtes hinzu: "Das Lesen lässt sich nämlich erlernen. Es ist gar nicht einmal besonders schwer, bedarf nur einer gewissen Übung. Beim Schreiben benötigt man zusätzlich noch etwas Geschick."
Radiks Blick huschte über die Seiten.
"Was ist das für ein Buchstabe?"
Er deutete mit seinem Finger auf eine Stelle im Text.
"Das ist ein ´E´."
"Und dieser?"
"Ein ´S´. Die Richtung ist zutreffend. Gelesen wird von rechts nach links. Und bevor du weiterfragst: der nächste Buchstabe ist ein ´T´ und das Wort heißt ´est´."
"Est?"
"Ja. Du musst schon etwas Geduld mitbringen, um den Text verstehen zu können. Die Sprache ist dir fremd und muss ebenso erst erlernt werden."
"Ist es Deutsch?"
"Nein, Latein?"
"Wo wohnt dieses Volk?"
"Nun, es gibt eigentlich kein Volk, das Latein spricht. Aber in vielen Völkern gibt es Menschen, die diese Sprache beherrschen. Es sind vor allem Gelehrte und Priester."
"Warst du früher ein Priester?", fragte Radik mit großem Erstaunen.
Womar lachte.
"Ein Priester nun gerade nicht. Meine Familie hat Handel getrieben, auch mit den Dienern Gottes. Es gibt keine bessere Möglichkeit, die Welt kennen zu lernen, als sie mit einem Handelskarren zu bereisen."
Und Womar erzählte von Märkten und Kaufleuten, Bettlern und Ganoven, Fürsten und Geistlichen. Er tat dies in ruhigen Worten, den Blick fest auf Radik gerichtet, der an seinen Lippen hing. Hin wieder befeuchtete ein Schluck Met die Kehle. Radik war von den Schilderungen überwältigt, obwohl er vieles nicht verstand.
Der Alte nahm keine Rücksicht auf den Wissensstand des Jungen, fügte allenfalls hier und da ein oder zwei erklärende Sätze ein. Er wusste, dass er die Neugier dieses wissensdurstigen Jungen nicht erst zu wecken brauchte und wollte doch mit seinen Schilderungen bei ihm mehr Fragen als Antworten hinterlassen.
Längst hatte er in Radik einen idealen Schüler entdeckt, bei dem es lohnend war, sich die Mühen einer Unterweisung in Schreiben, Lesen und Arithmetik aufzuladen. Dennoch wusste er um die Schwierigkeiten beim Erlernen dieser Fähigkeiten, die nur derjenige durchstehen konnte, den eine unbedingte Leidenschaft trieb. Und diese wollte Womar bei Radik weiter entwickeln. So nahmen in seiner Erzählung die Hinweise auf den Nutzen der Fertigkeiten des Lesens und Schreibens, sowie des kaufmännischen Rechnens in der einen oder anderen spannenden Situation einen breiten Raum ein.
Plötzlich aber beendete Womar sein Reden.
"Es ist spät geworden. Die Lichter sind fast hinunter gebrannt. Wir sollten uns zur Nachtruhe begeben."
Radik hatte noch vieles, was er wissen wollte, aber der Alte erhob sich, nahm das Buch unter den Arm und verschwand hinter dem Vorhang.
Als er sich ins Bett legte, fiel Radik ein, dass er Womar noch nicht gefragt hatte, warum hier im Raum zwei Betten standen und im Stall zwei Verschläge mit frischem Stroh ausgelegt waren. Aber das konnte er ja noch morgen nachholen.
In der Nacht träumte Radik sehr schlecht. Er sah immer wieder seine Eltern und Bewohner des Dorfes, die verzweifelt nach ihm und seiner Schwester suchten. Er sprach sie an, aber sie konnten ihn nicht hören und sahen durch ihn hindurch.
Morgens bestand Radik deshalb darauf, sofort ins Dorf zurückzukehren. Womar wollte ihn noch überreden, wenigstens etwas zu essen, was aber zwecklos war.
Der Alte spannte das kräftige Pferd vor den Schlitten und legte Felle und Decken auf die Sitzbänke, die sich Radik und Rusawa überwarfen, nachdem sie Platz genommen hatten.
Es wollte an diesem Morgen gar nicht recht hell werden und bald fielen dicke Flocken vom Himmel. Rusawa steckte sofort ihre kleine Hand aus der wärmenden Decke hervor und breitete sie zum Fangen der großen Schneekristalle aus.
Der Alte saß vorne und führte das Pferd unbeirrt in die dichte weiße Wand, ohne dass ihm die Umgebung eine Möglichkeit der Orientierung gab.
Bald überdeckte eine weiße Schicht den ganzen Schlitten, samt seiner Insassen, die völlig in sich versunken schienen. Die Dampfwolken vor den Nüstern und über dem Rücken des Pferdes nahmen stetig zu, während es seine Aufgabe mit nicht nachlassender Kraft erfüllte.
Nach einiger Zeit kamen sie auf einen Weg, der Radik bekannt vorkam, obwohl man durch das Schneetreiben kaum etwas sehen konnte, und bald tauchten die ersten Häuser auf. Das
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