Sweetgrass - das Herz der Erde
Dein Vater geht lieber jagen, natürlich, aber sage mir doch, was
ich
täte, wenn ich an unserem geheimen, geheiligten Ort kein Sweetgrass mehr sammeln dürfte? Und immer, wenn jemand von uns krank war, war es Mary June, die Essen vorbeigebracht hat. Wenn das keine Freundschaft ist, was dann?”
“Das machen sie eben so. Das ist keine Freundschaft, Mama, das nennt man Noblesse oblige. Reiche weiße Leute haben keine armen Schwarzen wie uns als Freunde.”
“Ach, was weißt du schon”, stieß Nona hervor und spürte, wie ihre Wangen sich röteten, weil ihre eigene Tochter sie zurechtwies. “Du hast nie in diesem Haus mit ihnen gearbeitet, und du weißt nichts über meine Beziehung zu Mary June. Und zu Preston Blakely auch nicht. In siebzig Jahren passieren eine Menge Dinge, das kann ich dir sagen.”
“Sag mir nur eines: Wann hat sie dich zum letzten Mal an deinem Korbstand besucht, um dich zum Abendessen einzuladen? Oder ins Kino?
Das
macht man mit Freunden, Mama. Man fragt nicht, ob sie wieder für einen arbeiten wollen.”
Nona kannte durchaus den Unterschied zwischen einer solchen Freundschaft und ihrer mit Mary June. “Es gibt verschiedene Arten von Freundschaften. Du nennst diese Leute, mit denen du bei der Bank arbeitest, auch deine Freunde. Mein Freund soundso, meine Freundin soundso. Trotzdem habe ich es noch nie erlebt, dass du mit denen ins Kino gegangen wärst.”
Das hatte gesessen, aber Maize schaute einfach zur Seite.
“Du denkst, du weißt über alles Bescheid, nur weil du aufs College gegangen bist. Ich sag dir, es gibt vieles, das man über Menschen lernen kann und das man nicht in Büchern findet.”
“Es geht nicht nur ums College, Mama. Es geht um Erziehung, Karriere und Lebenschancen in der Welt von heute. Es geht darum, mitmischen zu können. Das ist es, was ich für meine Kinder will. Und nicht, bei Weißen sauberzumachen, zu tun,
was
sie verlangen und
wann
sie es verlangen. Diese Familie hat lange genug in Ketten gelegen!”
Nona richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, stützte sich mit der einen Hand an der Arbeitsfläche ab und stemmte die andere in ihre Seite. Sie blickte Maize an wie eine liebende Mutter ihre Tochter anblickt, die sie zur Welt gebracht hat und die sie voller Stolz liebt, aber Wut und Schmerz verdunkelten ihre Augen, und sie spürte, wie sie zitterte und sich nur mühsam zurückhalten konnte.
“Was glaubst du eigentlich, wen du da einen Sklaven nennst, Kind?” Nonas Stimme war bedenklich leise und brüchig. Maizes selbstgerechter Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht. Auf der anderen Seite des Zimmers hatten Nonas beide Enkel das Interesse am Fernsehprogramm verloren und lauschten mit blassen Gesichtern und großen Augen. Nonas Mund bebte vor Erregung, und sie rang um Fassung. Als sie endlich wieder sprechen konnte, sagte sie: “Es tut mir leid, dass du dich für deine Mutter so sehr schämen musst.”
“Mama …”
Sie schob Maizes Arm beiseite, um ihre Würde nicht zu verlieren. “Ich bin stolz auf meine Arbeit. Es war gute und ehrliche Arbeit, und ich war gut darin. Und diese Arbeit hat auch dich ernährt, während du deine gute Schulbildung genossen hast, junge Dame. Gracie!”, rief sie laut nach ihrer Enkelin. Die Neunjährige zuckte zusammen. “Geh und hol mir die Familienbibel.”
Grace rappelte sich auf und holte die große, verblichene und abgenutzte, in schwarzes Leder gebundene Bibel, die auf dem Bücherregal einen Ehrenplatz hatte. Wie bei einer Prozession in der Kirche trug sie sie mit beiden Händen vor sich her zu ihrer Großmutter.
“Danke, mein Kind. Du bist ein gutes Mädchen. Und nun setz dich hierher an den Tisch. Du auch, Kwame”, forderte sie ihren dreizehnjährigen Enkel auf. Er murrte ein bisschen und schlurfte zum Tisch. “Du wirst bald erwachsen und solltest besonders gut zuhören. Es geht auch um deine eigene Geschichte, um dein Erbe.”
“Mama, nicht das schon wieder”, sagte Maize, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich in passivem Protest gegen den Küchenschrank. “Diese Geschichte haben sie mindestens hundertmal gehört.”
“Dann werden sie sie jetzt ein weiteres Mal hören. Man kann sie den Kindern gar nicht oft genug erzählen. Und nach meiner Ansicht ist die Botschaft in deinem Kopf auch noch nicht wirklich angekommen. Es gab Zeiten, da konnte eine Familie ihre Geschichte nur durch mündliche Erzählung weitergeben. Aber unsere Familie gehört zu den glücklicheren. Wir haben alle
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