Sweetgrass - das Herz der Erde
Namen aufgeschrieben. Hier drin”, sagte sie ehrfürchtig und strich mit ihrer breiten Hand behutsam über das brüchige, abgewetzte Leder.
“Ich erinnere mich vielleicht nicht mehr an jeden einzelnen Namen, doch sieben Generationen unserer Vorfahren haben auf Sweetgrass gearbeitet, und nicht alle von ihnen als Sklaven. Nach der Abschaffung der Sklaverei konnten wir wählen, ob wir gehen oder bleiben wollten. Die meisten sind gegangen. Aber eure Urur-und-so-weiter-Großmütter haben entschieden, als bezahlte Arbeitskräfte zu bleiben. Sie haben hart gearbeitet, waren sparsam und konnten den Blakelys irgendwann für gutes Geld ein ansehnliches Stück Land abkaufen. Und auf diesem Land leben wir und die anderen Nachkommen bis zum heutigen Tag. Hier sind unsere Wurzeln. Das ist
unsere
Geschichte.” Ihre Stimme zitterte vor Rührung.
Je älter sie wurde, desto näher fühlte sich Nona ihren Vorfahren, näher sogar als einigen Lebenden. In so mancher Nacht, vor allem wenn der Mond ein sanftes Licht verbreitete, wenn die Luft stickig war und vom Meer Nebel herübertrieb, fand Nona keinen Schlaf und spürte, wie sie sie umgaben, trösteten und sie aus ihrer anderen Welt anriefen.
Sie setzte sich langsam auf den Küchenstuhl und legte die Bibel vor sich auf den Holztisch. Das dünne Sitzkissen mit dem blauen Blumenmuster linderte ihre Rückenschmerzen kaum, aber sie beachtete sie gar nicht, sondern öffnete das Buch, dessen viele Seiten so dünn waren wie Mottenflügel. Jede Seite war mit schwarzer Tinte in kunstvoller Schrift beschrieben. Nona war stolz auf die schöne Handschrift ihrer Vorfahren. Und sie bewunderte immer wieder ihren Mut, sich darin zu üben, angesichts der Todesgefahr, in die sich Sklaven begaben, wenn sie lesen und schreiben lernten.
“Das meiste von dem, was ich über unsere Vorfahren weiß, wurde mündlich weitergegeben. Ich kann mich nur an einzelne Bruchstücke erinnern, vor allem über eine Sklavin namens Mathilde, die aus Afrika kam. Und Ben, der in Richtung Norden geflohen ist und von dem man nie wieder etwas gehört hat. Erinnert ihr euch an diese Geschichten?”
Als die Kinder nickten, schenkte sie ihnen ein zufriedenes Lächeln. Maize kam etwas näher und setzte sich dazu.
“Nun, meine Urgroßmutter hieß Delilah. Hier steht ihr Name. Sie war die letzte Sklavin auf Sweetgrass, und sie war es, die begann, unsere Familiengeschichte aufzuschreiben. Sie war die Chefhaushälterin auf Sweetgrass und eine wunderbare, kluge Frau. Ganz allein brachte sie sich aus Schulbüchern das Lesen und Schreiben bei. Natürlich musste sie sich die Bücher heimlich beschaffen, unter großer Gefahr. Erst als der Bürgerkrieg zu Ende war, fühlte sie sich sicher genug und schrieb nicht mehr heimlich. Es muss ein großer Tag gewesen sein, als Delilah ihren ersten Eintrag in diese Bibel machte. Schaut es euch genau an!”
Die Kinder beugten sich vor und lasen die geschwungene gleichmäßige Handschrift von Delilahs erstem Eintrag am 26. Februar 1865.
Endlich Freiheit!
Den zweiten Eintrag machte sie zu ihrer Hochzeit mit John Foreman und den dritten anlässlich der Geburt ihres ersten Kindes, ihrer Tochter Delia.
“Ihre Tochter – meine Großmutter – war das erste in Freiheit geborene Kind in unserer Familie. Nach der Abschaffung der Sklaverei blieb Delilah auf Sweetgrass und arbeitete dort als eine freie Frau. Sie wohnte mit ihrem Mann und ihren Kindern im Küchenhaus neben dem Haupthaus, bis es an ihrer Tochter Delia war – eurer Ururgroßmutter –, den Tod ihrer Mutter in diesem Buch niederzuschreiben. Delilah wurde auf dem Friedhof von Sweetgrass begraben, wo viele unserer Vorfahren begraben sind.
Delia hatte eine Tochter namens Florence. Als sie heiratete, wollte sie nicht mehr im Küchenhaus wohnen, also zog sie hierher in die Six Mile Road und baute das Haus auf der anderen Straßenseite. Aber sie arbeitete weiterhin für die Blakelys. Und bald schrieb auch sie den Namen ihres erstgeborenen Kindes in diese Bibel.”
“Nona”, las Gracie laut. “Das bist du.”
“Ja, das bin ich. Und ich bin die Letzte in unserer Familie, die für die Blakelys gearbeitet hat.”
“Und da steht der Name meiner Mama”, wusste Gracie und zeigte auf Maizes Namen in der Bibel. “Und darunter meiner und Kwames.”
Es war ein kleines Ritual, auf die eigenen Namen in der Familienbibel zu zeigen.
“Siehst du die Namen, Kwame?”
“Jawohl.”
Nona nickte bedächtig mit ihrem grauen Kopf. “Gut.” Sie
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