Sweetgrass - das Herz der Erde
das sie als Gast in dieses historische Haus gebracht hatte.
Und trotzdem fühlte sie, als sie den Weg entlangfuhren, auf dem einmal Kutschen gerollt waren, für einen kurzen Moment eine gewisse Enttäuschung.
Das Haus war viel kleiner, als sie erwartet hatte. Sie kam aus den Südstaaten und wusste, dass nicht alle Herrenhäuser aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg große herrschaftliche Anwesen waren, wie man sie von berühmten Fotografien und aus Filmen kannte. Viele waren gefällige, vergleichsweise bescheidene Häuser, die der Landadel, der die meiste Zeit in seinem Stadtpalais verbrachte, als Landsitz besaß. Doch selbst nach diesen Maßstäben war Sweetgrass ein kleines Haus – aber dafür ausgesprochen bezaubernd.
Das weiße Haus besaß zwei Säulen mit Kanneluren unter einem geschwungenen Portikus, und vorne eine schmale Veranda, die in eine einladende Treppe mündete. Die niedrigen Anbauten auf jeder Seite verliehen dem Gebäude etwas mehr Größe und Eleganz.
Adele fuhr auf die geschwungene Auffahrt und hielt den Wagen direkt vor dem Haus so abrupt an, dass Mary June sich gerade noch geistesgegenwärtig festhalten konnte.
“Geht nicht anders, sonst gibt’s hier gleich ein großes Unglück!”, rief Adele, stieß die Tür auf und rannte los. Sie lief vorn um das Auto herum und, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Mary June zuckte zusammen, als die Haustür zuschlug. Für einen Moment saß sie ganz still und fühlte sich, als würden sie immer noch fahren. In Sekundenschnelle sickerte die Hitze ins Auto. Sie öffnete die Wagentür, kletterte aus dem Auto, und beim ersten Schritt hinaus umfing sie bereits die würzige Luft des Lowcountry.
Der zarte Abendhauch fühlte sich weich an auf ihrer Haut und roch süß nach Jelängerjelieber und echtem Jasmin. Ganz allein stand sie neben dem Wagen und genoss die Stille nach den Stunden voller lauter Rock-’n’-Roll-Musik, Lachen und launigen Plaudereien. Sie atmete tief ein, und ihre Sinne reagierten sofort. Beinahe hatte sie das Gefühl, das Salz vom Meer riechen zu können. Die lange Fahrt fiel allmählich von ihr ab.
Da sie nicht ohne Aufforderung einfach ins Haus spazieren konnte, kostete sie die wertvollen Momente des Friedens aus, bevor sie Familie Blakely gegenübertreten würde, und sammelte sich. Sie lief ein Stückchen auf der Auffahrt hin und her, streckte die Beine und sah sich ein bisschen um. Als Mädchen vom Land fühlte sie sich draußen mehr zu Hause als drinnen und nutzte die Gelegenheit, um die großen Beete mit Kamelien und Azaleen auf beiden Seiten des Hauses zu begutachten. Die Azaleen waren schon am Verblühen, doch die Kamelien trieben gerade die ersten Knospen.
Wer immer die Lage des Hauses gewählt hat, war sehr clever, dachte sie im Laufen bei sich. Zur einen Seite sah man auf die stolze Eichenallee, zur anderen eröffnete sich der Blick weit über das Marschland und, gleich dahinter, über das glitzernde Blaugrün des Atlantiks.
Sie streckte den Arm aus, legte ihre Hand auf die furchige Rinde einer riesigen Lebenseiche und lehnte sich an den uralten Baum. Träge nahm sie das Bild des Hauses im Schatten der knorrigen, moosbewachsenen Bäume in sich auf. Hinter allem leuchtete zart das immer dunkler werdende Rosa und Blau eines typischen Sonnenuntergangs des Lowcountry. Ein Windstoß zerzauste ihr Haar und kühlte ihren Nacken wie in einer zarten Liebkosung.
Während sie so hinausschaute, hatte sie das merkwürdige Gefühl, diesen Ort zu kennen, als hätte sie irgendwann schon einmal hier gelebt. Im Rascheln der Blätter sprach die Vergangenheit zu ihr, ebenso aus dem Nachtgesang der Sumpfschwalben und aus der weichen sandigen Erde unter ihren Füßen. Ist es das, was man ein Déjà-vu nennt?, überlegte sie. Sie war doch noch nie hier gewesen, jedenfalls nicht in diesem Leben.
Aber eines war sicher: Sie liebte diesen Ort namens Sweetgrass, liebte dieses Haus, das inmitten dieser Landschaft stand wie eine anmutige Königin. Hier gehörte sie her. Auch wenn es gar keinen Sinn ergab, fühlte sie sich doch, als wäre sie nach Hause gekommen.
Sie hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel, und vernahm schwere Schritte, als jemand über die Veranda zur Treppe ging. Der Zauber des Moments war verflogen. Mary June wandte sich der Veranda zu, von der ein schlaksiger junger Mann mit vollem hellbraunem Haar auf sie zukam. Er war mittelgroß, schlank und seine gebräunte Haut hob sich von dem frisch gebügelten gelben Hemd
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