Taenzer der Nacht
jeder über schüt tete Malone mit seinen Gedanken, seinen Klagen, Hoffnungen, Meinungen und Eitelkeiten – und dachte nicht im Traum daran, daß sie für den geduldigen Zu hörer völlig ohne Bedeutung waren. So hätten sie wohl für alle Zukunft weiter gemacht. Niemand hörte so zu wie Malone. Niemand fragte so intelligent, so ver ständ nisvoll wie Malone, Fragen, die einen weiteren Strom von Enthüllungen nach sich zogen, die über haupt nicht mehr aufgehört hätten, wenn nicht die ande ren unruhig geworden wären, ihre Kümmernisse noch los zu werden. Malone hätte ewig zugehört.
„Aber erzähl mir doch etwas über die Leute, die du besuchst!“ sagte der Typ, der scharf darauf war, Mate rial für seinen Roman zu sammeln.
Das hellrote Nylon einer gestreiften Badehose schau te aus seiner Manteltasche, und während Malone sie heraus nahm und hochhielt, erzählte er uns von dem Mann, der ihn dafür bezahlte, daß er in diesen Speedo-Badehosen in seinem Schlafzimmer stand und den Ka pitän einer Schwimmannschaft darstellte. Ein anderer Kunde gab vor, ein fünfzehnjähriger deutscher Jude in Buchenwald zu sein, und Malone war der KZ-Wächter, den er um Gnade bat. Ein anderer stellte sich vor, daß er und Malone in einem Internat gemeinsam im Bett lagen, und die anderen Zimmergenossen jeden Mo ment von einem Besuch in einem nahegelegenen Mäd chen internat zurückkämen. Er verpaßte jemandem Ein l ä ufe, fesselte andere in ihrer Badewanne und pißte sie voll, oder saß einfach auf dem Sofa und hörte ihnen zu, wie sie von ihrer Mutter erzählten. Er besuchte marok kanische Millionäre und Mafiosi in Brooklyn, Ge schäftsleute aus Detroit, Bankleute und Meeresbio logen, Filmproduzenten, Nachrichtensprecher und Ballettänzer. Er verkörperte für sie Seeleute, Vietnam-Veteranen, englische Lords, tote Vettern. „Aber der eigen artigste“, fügte er noch hinzu, „und der netteste, finde ich, ist der Mann, der alle zwei Monate aus Cedar Rapids, Iowa, kommt und nur an meinem feuch ten Haar riechen will.“ Er wandte sich seinen Befragern zu. „Aber das wird euch alles langweilen.“
„O nein!“ schallte es im Chor zurück.
„Was hast du zum Beispiel heute abend gemacht?“ fragte jemand. „Ist dir irgendwas Ausgefallenes pas siert?“
„Ja, etwas ganz Ungewöhnliches“, sagte Malone und blies einen Strom Rauch aus. Er war müde, und dieser Vorfall war doch beunruhigender gewesen, als er sich zugestehen wollte. „Ich kam auf eine Verabredung hin in die East Sixty-Fourth Street“, sagte er nach einer Pause mit einer vor Erschöpfung hohlen Stimme, „und als die Tür aufging – war das ein Junge, mit dem ich in Vermont auf die Schule gegangen bin! Ein Junge, in den ich tatsächlich verknallt war. Wir waren beide verblüfft!“
„Und, habt ihr zusammengeschlafen?“ fragte der Ro manschreiber, der einen Zweiakter sich am Horizont abzeichnen sah.
„Nein“, lachte Malone. „Ich konnte nicht. Ich habe mit ihm auf der Schule Fußball gespielt. Er war mein Stubenältester, ich vergötterte ihn! Er holte sein Schul tagebuch heraus, und wir unterhielten uns über alle! Es war sehr lustig!“ Es gab eine Pause, und dann fragte jemand: „Ach, und wann ist deine Hochzeit?“ Denn alle wußten über John Schaeffer Bescheid.
„Bald, nehme ich an“, sagte Malone. „Wir bauen es ganz langsam auf; es ist wie ein Training für die Olympiade“, lachte er.
Er wurde dann still, zu müde, um noch weiter zu reden, und gefangen von der Erinnerung an den Schul tagebuchschreiber mit seinen Listen von Aktivitäten und Preisen. Er saß da, und dachte darüber nach, daß er in den letzten zehn Jahren Stück für Stück dieses Klassenfoto ausgelöscht hatte, bis auch diese Gestalt völlig verschwunden war. Die Leute, mit denen er jetzt zusammen war, hatte er letztes Jahr noch nicht ge kannt. Wie Schwule das gerne machen, hatte er einfach den Kontakt mit seiner früheren We l t abgebrochen; wie ein Mönch, der, sobald er ins Kloster eingetreten ist, seinem ganzen früheren Leben entsagt. Und so schrieb er in dieser Nacht in sein Tagebuch: „Ich hasse es, mit anzusehen, wie John Schaeffer auf das alles hereinfällt. Ich sollte ihm einfach sagen ,Mach dir keine Sorgen, nimm es einfach wie ein Wunder’, oder muß das jeder für sich entdecken?“
Er fühlte, wie er tief in seinem Innern müder und müder wurde, während er so dasaß, so müde, daß er wirklich unfähig war, sich zu bewegen. Er segnete die Dunkelheit
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