Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
tat.
»Die Zukunft hat begonnen«, hörte ich meinen Besucher noch sagen, bevor sich meine Zähne in das Fleisch bohrten.
5
Zarah hatte längst aufgehört zu rätseln, seit wann sie auf dem Metallboden des Containers, in den sie bis zur Anhörung gesteckt worden war, kauerte. Inzwischen fröstelte sie nicht mehr, und das Zittern, das ihren Körper ab und zu krampfartig überlief, kam nicht von der Kälte. Ob die Wunde an ihrem Bauch noch blutete? Sie wusste es nicht. Aber solange sie lebte, konnte es kaum allzu schlimm sein.
Andererseits schien ihr alles so seltsam unwirklich. Dabei hätte sie wütend sein sollen. Auf Ash, weil er so plötzlich aus ihrem Leben verschwunden war, ohne sie oder seinen Zwillingsbruder zu warnen. Auf Gallagher, der Tissan kaltblütig getötet hatte. Und auf sich selbst, weil sie nichts erreicht und alles nur noch schlimmer gemacht hatte.
Die Ausbilder an der Akademie hatten recht gehabt. Gefühle vergifteten einen jeden Dämon, beeinträchtigten seine Auffassungsgabe und trübten sein Urteilsvermögen. Hätte sie nur ihre Pflicht erfüllt, keine Fragen gestellt und sich keine Gedanken über Sachen gemacht, die sie nichts angingen, hätte sie sich jetzt nicht in einer derart erbärmlichen Lage befunden. Und mehr noch: Ash hätte nicht fliehen müssen, Tissan wäre am Leben geblieben, und auch Enyas Existenz wäre in keiner Weise gefährdet gewesen.
Zarah stierte in die Schwärze, die sie umgab. Das war das Ende. Ihr Ende. Und vielleicht … vielleicht war es auch gut so.
Halb verdurstet und wie benommen registrierte sie, wie das Schloss lärmte und die Tür aufschwang. Wie jemand in den Container trat, sie packte, hochriss und nach draußen schleifte. Das künstliche Licht der Außenlampen blendete ihre Augen, während sich die Handschellen kalt um ihre Gelenke legten.
Sie stolperte dem Wächter hinterher, zwei andere folgten ihr und stießen sie pflichtbewusst voran, wenn sie zögerte. Nach wenigen Metern erreichten sie eine Metalltreppe, die bei jedem Tritt wackelte. Unten angelangt, blickte Zarah zu den Containerreihen hoch. Über ihnen zogen Wolkenfetzen über den nächtlichen Himmel, und der Geruch der Elbe weckte in ihr den Gedanken an die Freiheit.
»Weiter!« Ein Stoß in den Rücken, und sie taumelte in den unterirdischen Korridor, der von dem Gefängnistrakt fortführte. Die meisten Häftlinge, die ihn entlangliefen, liefen dem eigenen Tod entgegen. Jede längere Inhaftierung galt als unproduktiv, zumindest laut des Gutachtens der vom Obersten Dämonenrat geförderten Forschungsinstitute.
Zarah zählte die Schritte nicht, die sie noch gehen, nicht die Stufen, die sie noch hochsteigen musste. Irgendwann blieben die Wächter vor einer Tür stehen. Zarah hob den Blick von ihren gefesselten Händen und sah einen der Männer an.
»Wer sitzt heute im Tribunal?« Es gelang ihr nur mühsam, die Worte hervorzubringen, so ausgetrocknet war ihre Kehle. Auch nach langem Betteln hatte sie kein Wasser erhalten, und wenn sie schluckte, überkam sie das Gefühl, an der eigenen Zunge zu ersticken.
Die Augen des Wächters blitzten auf, als sein Blick sie streifte. Die breiten Nasenflügel zuckten leicht. Mehr Beachtung war sie anscheinend nicht wert. Aus seiner Sicht war sie schon verurteilt, denn wer sich nichts zuschulden kommen ließ, kam auch nicht ins Gefängnis. Zarah seufzte. Er machte alles richtig. Er ließ keine Zweifel zu und würde niemals in ihre Lage geraten.
Zum Glück musste sie seine Verachtung nicht lange ertragen. Die Tür schwang auf, und der Protokollführer trottete heraus: Kahlköpfig und kleinwüchsig – mit viel gutem Willen reichte er Zarah bis unter die Brust. Seine Haut schimmerte olivgrün, was auf Koboldblut in seinen Adern schließen ließ. Er rieb sich seine Knollennase, tippte auf seinem Pad herum und nuschelte: »Fall Nummer G-154-3x zur Anhörung, bitte.«
Zarah wurde in den Gerichtssaal geführt. Zwei der Wächter blieben am Eingang stehen, während der dritte sie mit sich zerrte und vor der Empore am anderen Ende des Raumes in die Knie zwang. Unter dem Stoß taumelte sie und stützte sich mit den Händen am Boden ab. Der Stein unter ihren Fingern fühlte sich glatt an von den vielen Knien, die diese Stelle blankpoliert hatten.
Auf der Empore stand ein großer, mit einem grünen Tuch bedeckter Tisch. Der Stuhl in der Mitte war leicht erhöht und für den obersten Richter vorgesehen. Gaius. Ein Angehöriger des Dämonenrates. Höchstpersönlich.
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