Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
einem Zucken glich, wollte sich das Haar aus dem Gesicht streichen, doch die Finger verhedderten sich in dem Gewirr. Sie senkte die Hand und starrte teilnahmslos durch die verfilzten Strähnen. Gewöhnungsbedürftig, dieses hellblonde, dämonenfremde Haar. So blond, dass es einem Tupfen Hoffnung gleich zu leuchten schien, obwohl es dreckverkrustet war.
»Da du die Eisenhandschellen nicht mehr trägst, beginnt der Ortungszauber zu wirken. Zwar kann er deine genaue Position nicht aufzeigen, aber denjenigen, der ihn gewirkt hat, zu dir führen. Den Sucher. Je weiter du von ihm entfernt bist, desto schlechter wird es dir gehen.« Sie brauchte nicht hellsehen zu können, um zu ahnen, was im Kopf des Mädchens vorging. Die Worte, die gleich darauf die blassen Lippen verließen, hätte sie mitsprechen können.
»Den Ortungszauber … kann nicht brechen. Sie schnappen mich, was?« Die halb geschlossenen Lider bebten.
»Sie werden nicht aufgeben, es zu versuchen.«
»Sie … schnappen mich.«
»Wir werden es ihnen nicht leicht machen. Ich bin bei dir, und …« Abbas braucht dich. Und solange Abbas einen braucht …
»Und – was?«
»Und erst mal müssen wir hier weg.« Sie zog Alessa auf die Beine und stützte sie. Eigentlich wollte sie warten, bis ihre Partnerin wider Willen selbst auf die rettende Idee kam, aber anscheinend verlangte sie zu viel von diesem verstörten, geschwächten Menschenmädchen. »Hast du schon etwas von der Toten Stadt gehört?«
»Nein!« Alessa taumelte zur Seite, trat falsch auf, und ihr Fuß knickte um.
Ihr Gewicht lastete auf Zarah, und als der Kopf des Mädchens gegen die Bisswunde stieß, hätte sie aufheulen können. Sie biss die Zähne zusammen. »Die Tote Stadt ist ein kleiner Ort nördlich von Hamburg. Früher hieß er Bargteheide.«
»Ich meine … sicher. Ich meine …« Schwer atmend richtete sich das Mädchen auf und straffte die Schultern. »Wie … kommsu ausgerechnet … den Entschluss …?«
»Angeblich wird dort jede Art von Magie ausgelöscht. Wenn es uns gelänge …«
»Vergiss es.« Alessa entwand sich dem Griff und taumelte. »Ich … Nein, du gehst nicht in die Tote Stadt! Ich bringe dich nicht dorthin.«
»Du – mich? Mädel, du stehst kaum auf den Beinen.«
Alessa schob Zarahs Hände, die sie zu stützen versuchten, beiseite und schaffte tatsächlich ein paar Schritte. Die ersten wie eine Seiltänzerin, die nächsten fester, trotziger. »Mir geht es schon besser.«
»Genau. Weil der Sucher und sein Trupp dir langsam aber sicher näher kommen.«
»Ich muss … muss es allein schaffen.« Sie torkelte zu den Handschellen, die sie eben noch abgeworfen hatte, und wickelte sich die Kette um den Arm. »Denn ich werde dich ganz sicher nicht in die Tote Stadt führen.«
Zarah verschränkte die Arme. Der Wunsch, endlich ins Freie zu kommen, zu rennen und zu jagen, pulsierte immer eindringlicher in ihren Adern. »Als du gerade so durcheinander vor dich hingestammelt hast, konntest du paradoxerweise klarer denken. Dir ist doch immer noch bewusst, dass diese Aktion den Zauber nicht brechen wird, oder? Eisen friert die Magie ein. Es verhindert, dass in unmittelbarer Nähe neue Zauber gewirkt werden, aber es lässt nichts einfach so verschwinden.«
»Es wird den Zauber schwächen. Das sollte mir für den Anfang genügen.«
Die Wunde an Zarahs Hals pochte dumpf. Irgendwo oben rumort es. Abgehackte Rufe, Schritte, Füße, die über den Boden stampfen. Was geht da vor? Sie schüttelte den Kopf, wartete, bis die Welt zurück in den gewohnten Takt fand und nicht mehr so seltsam verzerrt und langsam wirkte.
Exorcicamus te, omnis immunde spiritus, omnis Satanica potestas …
Ein Schuss ertönte.
»Zarah? Geht es dir gut?«
Sie tastete nach der Wand, die sich unter ihren Fingern aufzulösen, mal näher zu kommen, mal weiter fortzurücken schien. »Nein. Ich höre sie kommen. Sie kommen!«
An der stillgelegten Rolltreppe, die nach oben führte, polterte es. Alle Menschen, die sich noch bewegen konnten, rutschten, krochen oder kullerten die Stufen hinunter. Wie Ratten strömten sie in die unterirdischen Gänge und suchten Zuflucht in den dunklen Winkeln.
Ein Hieb in den Bauch drückte Zarah gegen die Wand. Sie spähte über die Köpfe der Fliehenden hinweg. »Alessa!«
Noch ein Hieb. Diesmal schlug sie zurück, kämpfte sich vorwärts, obwohl sie immer wieder zurückgedrängt und hin und her geschubst wurde. »Alessa …« Sie stolperte über einen Körper, hielt sich
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