Tag der geschlossenen Tür
zu sein. Ich stelle den Lauf der Dinge infrage. Und wenn ich könnte, würde ich eine Zeitbremse an der Welt installieren und sie ziehen. Auf dass das Geschehen anhielte und ich ruhig dazwischen walten und arbeiten könnte. Sich überschlagende Ereignisse würden im Fluge erstarren, und ich würde sie in aller Ruhe sortieren, sodass sie zu einem positiven Ende führen könnten. Die Peiniger dieser Welt würde ich entfernen, davontragen und in einen Keller in Harburg sperren, wo sie sich gegenseitig auffressen dürften. Die Waffen würde ich vernichten, die Waffenhersteller in einen Keller in Norderstedt sperren, wo sie sich gegenseitig erschießen oder wahlweise mit Sprengminen zerfetzen dürften. Die Soldaten dieser Welt würde ich aus den Kasernen abtransportieren lassen, sie aufstellen lassen auf der Insel Fehmarn, wo sie sich nach dem Aufwachen mit bloßen Fäusten gegenseitig elimieren dürften. Und die attraktivsten Frauen der Welt würden mich nicht als zu unattraktiv empfinden können. Ich würde sie um mich scharen und schminken und schön ankleiden, ganz wie es mir gefiele. Wenn ich die Zeitbremse hätte – es sollte nicht zum Nachteil für die Welt sein! Aber ich habe sie nicht. Im Gegenteil. Die Zeit rennt mir davon. Ich lebe in der Bonuszeit. In der Zeit nach dem fünfunddreißigsten Lebensjahr. Noch vor wenigen Jahrhunderten lag im fünfunddreißigsten Jahr die durchschnittliche maximale Lebenserwartung eines Europäers. Ab fünfunddreißig reproduzieren sich die Zellen nicht mehr, und der Körper baut langsam ab, um sich konstant auf sein Ende vorzubereiten. Der Stoffwechsel stellt sich um, die Knochen werden porös, die Adern verkalken, die Muskelmasse reduziert sich, und Fettmasse baut sich auf. Die Reproduktionschancen sinken rapide, die körperlichen Befindlichkeiten steigen frappant. Die Zeit nach dem fünfunddreißigsten Lebensjahr ist die Zeit, die einem als europäischem Menschen in der Gegenwart als Bonus nachgereicht wird. Bis dahin sollte man die Hauptaufgabe der Reproduktion und Arterhaltung erledigt haben. Dafür gibt es als Belohnung ein paar unbeschwerte Stunden in ein paar ungelenken Jahren. Ich empfinde das als ein jämmerliches Geschenk. Sich an etwas festzuhalten, das man schon gar nicht mehr besitzt. Was der liebe Gott von meiner Einstellung hält? Er soll sich nicht wundern, wenn sich der Schimmel seiner eigenen Schimmeligkeit bewusst wird.
Ikonoklasten der Liebe
I ch gebe zu, dass auch dieses Mal die großen Gedanken einen Bogen um mich gemacht haben. Und da mir das Warten nach ein paar Tagen langweilig wird, entschließe ich mich, wieder zu arbeiten. An einem Mittwochmorgen ziehe ich meine Museumsuniform an, packe die Schachtel mit Totelinchen in meine Jackentasche und mache mich auf zum Dienst. Ich muss meiner Existenz durch Leistung Sinn verleihen.
Mir scheint, dass mich die Dame an der Kasse mittlerweile erkennt und mich heute sogar skeptisch beäugt. Was will denn immer wieder dieser Kerl hier in seiner schlampigen Aufmachung? Madame, was kann ich dafür? Ich habe hier meinen Dienst zu erfüllen. Auf Mobbing reagiere ich überhaupt nicht, Madame. Wir arbeiten im gleichen Betrieb, Sie kennen mich nicht, ich kenne Sie nicht, also, was soll’s? Madame, das muss reichen … Maßvollen Schrittes durchkreuze ich die Flure und Räume und betrete schließlich meinen Arbeitsplatz. Nichts hat sich verändert in den letzten Tagen. Nur der Stuhl, den ich mir in die Ecke gestellt habe, ist verschwunden. Das ärgert mich. Will man meine Arbeit sabotieren? Will man mir den Spaß an der Betätigung nehmen?
Ich betrete den Raum nebenan, schnappe mir einen Stuhl, stelle ihn in meinem Raum in die Ecke, setze mich und warte.
Heute scheint besonders wenig los zu sein, es dauert etwa eine Stunde, bis eine ältere Dame den Raum betritt und ihn desinteressiert durchschreitet. Wie kann man nur so unempfänglich sein? Ich ziehe Totelinchens Sarg aus der Jackentasche und öffne ihn. Da liegt sie, meine kleine vertrocknete Geliebte mit den angezogenen Gliedmaßen. Aber anstatt des ruhigen Nichts ihres Todesschlafes höre ich das Geräusch eines langen, pfeifenden Einatmens, als würde ein Vakuum gefüllt. Danach erhebt sich eine böse kleine Stimme:
»Unglaublich. Was fällt dir ein? Das ist ja eine bodenlose Sauerei!«
»Huch. Was ist denn jetzt passiert?«
»Was jetzt passiert ist? Ich wäre fast erstickt! In dieser Drecksdose wäre ich fast erstickt. Hörst du, Sau von einem
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