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Tag der geschlossenen Tür

Tag der geschlossenen Tür

Titel: Tag der geschlossenen Tür Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rocko Schamoni
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perfekten Zustand zu gelangen, muss man sich als Medium reinigen, muss man sich in eine offene, frei schwingende Beschaffenheit bringen und auf Zeit verhalten. Muss man sich den großen Gedanken anbieten. Als dünnmembranige Wirtszelle zur Befruchtung darbieten. Ein Kreuzlein der Kontemplation aufstellen, das den Gedanken als Zeichen gilt: Hier steht ein leerer Geist auf dem Gipfel und ist frei, um gefüllt zu werden. Und dann muss man warten. Denn nur selten kommen die großen Gedanken auf die Erde nieder, sie haben noch andere Areale dieses Universums zu versorgen. Sie zeichnen verantwortlich für alles Denkende und in sozialen Zusammenhängen Existierende. Manchmal schießen die großen Gedanken gemeinsam hernieder, wenn sie ein besonders geeignetes Medium gefunden haben. Jemanden wie Sokrates, Epikur, Montaigne oder Schopenhauer. Jemanden wie Bosch, Goya, Duchamp oder Max Ernst. Jemanden wie Rousseau, Proudhon, Kropotkin oder Bertrand Russell. Anderen verweigern sie sich. Es gibt Medien, die sitzen ein ganzes Leben lang offen herum und warten, aber nur kleine Gedanken und Visionen stellen sich ein. Woran hat es gefehlt? Am richtigen Zeitpunkt? An zu wenig Raum, den zu füllen sie vorgefunden hätten? Solange jedenfalls die großen Gedanken nicht kommen, sollte man sich meiner Ansicht nach gar nicht erst mit den kleinen aufhalten, sie sperren nur die Kapazitäten und verstellen die Sicht. Wenn mir in einem solchen Zustand der Erwartung langweilig wird, dann, aber nur dann, lasse ich im Hintergrund den Fernseher laufen, das verkürzt die Wartezeit. Um es klar zu formulieren: Ich sitze vor dem Fernseher und warte auf die großen Gedanken. Meist vergesse ich sie sogar und schaue nur noch fern. Irgendwann werden sie schon kommen. Vielleicht schnappe ich sie ja auch aus dem laufenden Programm auf. Vielleicht werden sie mir von Peter Hahne mitgeteilt. Peter Hahne ist das Medium, das mir die großen Gedanken serviert, die ich dann nur noch zu Ende denken muss. Oder Friedhelm Mönter. Oder Peter Handke. Oder irgendein anderer Heini.
    Wenn ich etwas habe, dann ist es Zeit.
    Ich schaue aus dem Küchenfenster. Über den Hinterhof. Die Dächer des Viertels. Sehe den Bunker am Heiligengeistfeld. Die Scheinwerfer des St.-Pauli-Stadions. Wandere wieder zurück und lande mit meinem Blick auf ihrem Fenster. Immer noch hängt dort der rote Vorhang. Seit mindestens fünfzehn Jahren hängt dort dieser rote Vorhang. Er ist schon ganz ausgeblichen. Wie ein alter Theatervorhang. Und wie fast immer ist er geschlossen. Und hinter diesem Vorhang lebt immer noch Mia. Mia, die ich so verehrte. Mia, die ich nie für mich gewinnen konnte. Mia, die sich mir geben wollte, ohne mich zu begehren. Mia, die ich nicht nehmen konnte, ohne von ihr gewollt zu werden. Und jetzt lebt sie dort noch immer. Das Stück läuft weiter, obwohl der letzte Akt schon längst gespielt wurde. Und sie ist wie ich älter geworden. Hat nicht mehr diesen speziellen Glanz. Dieses Begehren weckende Strahlen. Dieses Leuchten, das alle Menschen anlockt, als wäre man mit etwas unermesslich Wertvollem benetzt worden. Gehört wie ich nicht mehr zum inneren Kreis der um das Feuer Tanzenden. Ist erotisch und sexuell derangiert. Nimmt ab und zu noch mal einen Mann mit nach Hause, aber eigentlich hat sie das alles gehabt. Und es hat sich alles gehabt. Und alle haben sie gehabt. Und dann macht sie manchmal den Vorhang auf und schaut zu mir hoch. Und dann lächeln wir uns an, denn wir beide wissen, wie es ist. Aber ich kann, im Gegensatz zu ihr, an diesem Lauf der Dinge nichts Versöhnliches finden, denn jenes Strahlen ist der Urglanz des Lebens, und wenn es einem abhandenkommt, heißt es, sich langsam auf den Abschied vorzubereiten. Das Handtuch zu falten. Den Smoking zurückzugeben. Den Fahrer zu bezahlen. Alles abzulegen, was einem für die Dauer des Aufenthalts geliehen wurde. Erst Abschied zu nehmen von allen, die vor einem gehen müssen, und schließlich selber von Bord zu gehen. Ich gehöre nicht zu den Weisen, die diesen Abschied gelassen durchleben können und darin den tieferen Sinn des Lebens entdecken, weil Leben Veränderung und Reifung bedeutet. Ich reife nicht. Weil mir das Reifen zuwider ist. Und die Reifen ebenfalls. Man möge mich bitte mit den Begriffen Reifung und Verantwortung nicht weiter belästigen. Lieber ertrage ich die Schmerzen des Widerspruchs, der aus dieser Spannung entsteht. Aus der Spannung, ein nicht reifen wollender Geist in einem gereiften Körper

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