Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
Autobahnauffahrt nach Helsinki, war bei einem Unfall ein elfjähriges Mädchen ums Leben gekommen. Der Vater, der den Unfallwagen gesteuert hatte, war leicht verletzt. Der Sachschaden erheblich. Der Unfallverursacher noch nicht ermittelt.
Er saß lange vor dem flimmernden Bildschirm, ließ seinen Blick auf den Worten ruhen. Er spürte einen vagen, fast weichen Schmerz hinter den Augen, und die Buchstaben lösten sich und formten neue Worte. Worte, die er nicht verstand.
Die Form der Worte war perfekt, er hatte nie etwas Vergleichbares gesehen, es waren Kristalle, die immer neue Verbindungen eingingen, in schneller Abfolge, aber fließend, nicht willkürlich, sondern schlüssig und unausweichlich. Buchstaben, die niemand kannte. Worte, die niemand verstand. Sätze, die niemand je ausgesprochen hatte.
Er lehnte sich zurück, ohne den Blick abzuwenden, und dachte, dass es etwas anderes nicht mehr zu tun gab. Nur noch dieses eine. Er würde lernen müssen – und es würde lange dauern, vermutlich ein Leben lang –, er würde lernen müssen, früher oder später, diese Sprache zu sprechen.
ZWEI STUNDEN FRÜHER, IN EINER GESCHICHTE, DIE NICHT ERZÄHLT WIRD
31
Jarkko Falk kann nicht atmen. Versucht es, aber er kann nicht. Er fragt sich, ob das Schnappatmung ist. Ob mit diesem Begriff der Zustand assoziiert ist, in dem er sich befindet. Hat noch nie darüber nachgedacht. Aber jetzt. Endlich. In diesem Moment. Der geeignete Moment, um darüber nachzudenken.
Aber es könnte auch ein ganz anderer Moment sein. Es ist unerheblich, worum es sich handelt, und der Moment, in dem er sich befindet, ist ebenso unerheblich, denn alle Momente, die er erlebt hat, haben nur stattgefunden, um in diesem einen ein Ende zu finden, und das Ende ist ebenso beliebig wie alle Momente, die vorher gewesen sind, und das ist logisch, im streng mathematischen Sinn.
Der Raum ist dunkel, neben dem Aschenbecher glüht eine Zigarette, die Réka gerade noch geraucht hat. Die Zigarette brennt noch, aber das Leben der Frau, die sie geraucht hat, ist erloschen.
Das Gesicht des Mannes, den er nicht kennt, ist eine scharfe Kontur im Schatten. Die Augen aufgerissen. Der Mund verzerrt. Unecht, wie eine Grimasse, die geschnitten wird, unangemessen, im unpassenden Moment, langweilig, armselig, ohne Talent. Er wundert sich ein wenig über seine Gedanken, über die Ruhe, die Wut.
Er ist wütend, aber ruhig. So wütend wie noch nie. So ruhig wie noch nie. Traurig. Ja, das ist das Wort. Alle anderen Worte sind falsch, möchte er streichen.
Traurig.
Der andere, der Grimassenschneider, ist der mit der Atemstörung, nicht er selbst, er selbst ist ganz ruhig, aber das wird ihm erst jetzt bewusst, er hat die Atemstörung des Mannes auf sich selbst bezogen, unwillkürlich, überfordert vom Rollentausch, und das alles ist ohnehin ebenso unerheblich wie der Rest der Situation, von der er nicht weiß, ob sie stattfindet oder nicht. Aber das muss er auch nicht wissen, denn tatsächlich, das ist logisch, im streng mathematischen Sinn, der logischste Augenblick seines Lebens, er befindet sich in einer Null-Gleichung, in einem perfekten Nichts.
Er gibt einen Schuss ab, auf die Grimasse. Aus einer Waffe, die nicht ihm gehört, auf eine Weise, von der er keine Ahnung hat, ob sie korrekt zu nennen ist, denn er hat noch nie geschossen. In seinem Leben noch nicht, oder doch, einmal, vor wenigen Sekunden, als er die Frau erschossen hat, die er liebt.
Die Frau, die sein ganzes Leben ausfüllt. Alles. Er hat sein Leben erschossen, denkt er. Und jetzt auch noch einen Mann, aber dieser Mann ist nicht wichtig, er könnte ihn fünf oder zehn Mal erschießen, es würde nichts ändern. Er wundert sich darüber, dass er getroffen hat. Zwei Tote. In einer Wohnung, in der er zuvor noch nie gewesen ist, und er fragt sich, was er hier gesucht hat, was ihn in diese Wohnung geführt hat, welche irrsinnige, zutiefst logische Geschichte.
Zeit, zu gehen. Wohin, ist nicht wichtig. Der Weg ist vorgezeichnet, ist immer schon da gewesen. Er ist schon immer allein gewesen, das ist eine überraschende Erkenntnis, die still zu schmerzen beginnt, immer allein, vor allem in dem schönen Moment, diesem einen besonderen, in dem er geglaubt hat, die Einsamkeit zu besiegen.
ZWEITER TEIL
MAI
32
Marko Westerberg, der Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen in Helsinki, stand in einer freien Fläche auf schmelzendem Schnee und drehte sich langsam im Kreis.
Die Kernfarbe war Weiß. Ein verschneiter
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