Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
betrachteten. Da niemand hier davon wusste, was Meredith
gesehen und getan hatte, erschien sie natürlich wie jede andere
Achtzehnjährige.
Gute Sache, dass Tante Judith nicht weiß, dass Stefano gleich
sechshundert Jahre älter ist als ich, dachte Elena mit einem geheimen
Grinsen. Wenn sie Alaric schon zu alt findet …
Es klingelte an der Tür.
»Das sind Matt und die anderen«, sagte Elena und stand auf, um ihre
Schale in die Spüle zu stellen. »Bis heute Abend.«
Margaret warf Elena aus großen Augen einen stummen, flehenden Blick
zu, und Elena machte einen Umweg, um dem kleinen Mädchen die Schul-
ter zu drücken. Hatte Margaret immer noch Angst, dass sie nicht zurück-
kommen würde?
Draußen im Flur fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar, bevor sie
die Tür öffnete.
Doch dann stand vor ihr nicht etwa Stefano, sondern ein wildfremder
Junge. Ein wirklich gut aussehender Fremder, registrierte Elena automat-
isch, ein Junge in ihrem Alter mit gelocktem, goldenem Haar, wie ge-
meißelten Zügen und strahlend blauen Augen. Er hielt eine dunkelrote
Rose in der Hand.
Elena richtete sich ein wenig höher auf, straffte unbewusst die Schultern
und schob sich das Haar hinter die Ohren. Sie schwärmte für Stefano, aber
das bedeutete ja nicht, dass sie andere Jungen nicht ansehen oder mit
ihnen reden durfte. Sie war schließlich nicht tot. Nicht mehr, dachte sie
und lächelte über ihren privaten Scherz.
Der Junge lächelte zurück. »Hi, Elena«, sagte er gut gelaunt.
»Caleb Smallwood!«, rief Tante Judith, die gerade in den Flur kam. »Da
bist du ja!«
Elena spürte, wie sie zurückprallte, aber sie behielt das Lächeln auf ihr-
em Gesicht bei. »Irgendwie verwandt mit Tyler?«, fragte sie betont
gelassen und musterte ihn möglichst diskret. Sie hielt Ausschau nach …
nach was? Nach Anzeichen dafür, dass er ein Werwolf war? Ihr wurde klar,
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dass sie nicht wusste, worin diese Anzeichen bestehen sollten. Tylers gutes
Aussehen hatte immer etwas Animalisches gehabt, mit seinen großen,
weißen Zähnen und dem breiten Gesicht. Aber war das Zufall gewesen?
»Tyler ist mein Cousin«, antwortete Caleb, und sein Lächeln begann,
sich in ein fragendes Stirnrunzeln zu verwandeln. »Ich dachte, du wüsstest
das, Elena. Ich wohne bei seiner Familie, während Tyler … fort … ist.«
Elenas Gedanken überschlugen sich. Tyler Smallwood war weggelaufen,
nachdem Elena, Stefano und Damon seinen Verbündeten besiegt hatten,
den uralten bösen Vampir Nicolaus. Und Tyler hatte seine Freundin – die
zeitweilig seine Geisel gewesen war – schwanger zurückgelassen. Da Elena
mit den Wächtern aber nicht über Tylers und Carolines Schicksal ge-
sprochen hatte, hatte sie keine Ahnung, was jetzt mit ihnen los war. War
Tyler überhaupt ein Werwolf? War Caroline schwanger? Und wenn sie es
war, erwartete sie dann ein Werwolfbaby oder ein menschliches Baby? Sie
schüttelte schwach den Kopf. Schöne neue Welt, wirklich. »Nun, lass Caleb
doch nicht draußen auf der Veranda stehen. Bitte ihn herein«, sagte Tante
Judith hinter ihr ungeduldig. Elena trat beiseite, und Caleb kam an ihr
vorbei in den Flur.
Elena versuchte, ihren Geist auszustrecken und Calebs Aura zu spüren,
ihn zu lesen, um festzustellen, ob er gefährlich war – aber einmal mehr
stieß sie gegen diese unsichtbare steinerne Mauer. Es würde einige Zeit
dauern, bis sie sich daran gewöhnt hatte, wieder ein normales Mädchen zu
sein. Plötzlich fühlte Elena sich schrecklich verletzbar.
Caleb trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, und sie riss sich
schnell zusammen. »Wie lange bist du schon in der Stadt?«, fragte sie, und
gab sich im Geiste sofort einen Tritt, weil sie diesen Jungen – den sie of-
fensichtlich kannte – wieder wie einen Fremden behandelte.
»Nun«, antwortete er langsam, »ich bin schon den ganzen Sommer über
hier. Hast du dir am Wochenende irgendwo den Kopf gestoßen, Elena?«
Er grinste sie spöttisch an.
Elena zog eine Schulter hoch und dachte an all das, was sie am Wochen-
ende tatsächlich erlitten hatte. »Etwas in der Art.«
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Er hielt ihr die Rose hin. »Die ist wohl für dich.«
»Danke«, sagte Elena verwirrt. Als sie den Stiel umfasste, stach ihr ein
Dorn in den Finger und sie steckte ihn in den Mund, um den Blutstropfen
aufzufangen.
»Dank nicht mir«, erwiderte er. »Ich hab sie auf der Treppe zur Veranda
gefunden. Du musst einen heimlichen Verehrer
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