Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
haben.«
Elena runzelte die Stirn. Es gab jede Menge Jungen, die sie während ihr-
er Schulzeit bewundert hatten, und wenn dies vor ungefähr neun Monaten
passiert wäre, hätte sie eine klare Vorstellung davon gehabt, wer ihr eine
Rose vors Haus legen würde. Aber jetzt hatte sie keinen Schimmer.
Matts verbeulter alter Ford fuhr draußen vor und hupte. »Ich muss
mich beeilen, Tante Judith«, sagte sie. »Jetzt sind sie da. War nett, dich zu
sehen, Caleb.«
Als sie auf Matts Wagen zuging, krampfte sich Elenas Magen zusam-
men. Während sie die Rose geistesabwesend zwischen den Fingern drehte,
begriff sie, dass es nicht nur die eigenartige Begegnung mit Caleb war, die
ihr zu schaffen machte. Es war der Wagen selbst.
Denn mit Matts alter Rostlaube war sie im Winter von der Wickery
Bridge gestürzt, in Panik und verfolgt von bösen Kräften. Sie war in
diesem Wagen gestorben. Die Fenster waren zersplittert, nachdem sie in
den Fluss gestürzt war, und der Wagen hatte sich mit eisigem Wasser ge-
füllt. Das zerkratzte Lenkrad und die zerbeulte, unter Wasser gesetzte Mo-
torhaube waren das Letzte gewesen, was sie in diesem Leben gesehen
hatte.
Aber hier stand der Wagen – genauso unversehrt wie sie selbst. Elena
schob die Erinnerung an ihren Tod beiseite und winkte Bonnie zu, deren
erwartungsvolles Gesicht durch das Beifahrerfenster zu sehen war. Sie
konnte all diese Tragödien vergessen, weil sie sich nie ereignet hatten.
Meredith saß in eleganter Haltung auf der Hollywoodschaukel, die auf der
Veranda ihres Elternhauses stand, und stieß sich mit einem Fuß sanft ab.
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Ihre starken Finger waren reglos; das dunkle Haar fiel ihr glatt über die
Schultern; ihre Miene war so unergründlich wie immer.
Nichts ließ darauf schließen, wie angespannt und geschäftig Meredith’
Gedanken arbeiteten und welche Sorgen und Notfallpläne sie hinter ihrer
kühlen Fassade bewegten.
Am Vortag hatte sie versucht herauszufinden, was der Zauber der
Wächter für sie und ihre Familie bedeutete – vor allem für Cristian, ihren
Bruder. Cristian, den Nicolaus vor mehr als einem Jahrzehnt entführt
hatte. Sie verstand immer noch nicht alles, aber langsam dämmerte ihr,
dass Elenas Handel viel weitreichendere Konsequenzen nach sich zog, als
irgendjemand von ihnen sich hätte träumen lassen.
Doch heute galten ihre Gedanken Alaric Saltzman.
Nervös klopfte sie mit den Fingern auf die Armlehne der Schaukel. Doch
dann zwang sie sich erneut zu völliger Reglosigkeit.
Meredith schöpfte Kraft aus ihrer Selbstdisziplin. Wenn Alaric, ihr Fre-
und oder vielleicht auch Exfreund – bevor er die Stadt verlassen hatte, war
ihre Verlobung eine ausgemachte Sache gewesen, also war er praktisch ihr
Fast-Verlobter –, wenn also Alaric in den Monaten ihrer Trennung seine
Einstellung ihr gegenüber geändert haben sollte, nun, dann würde
niemand, nicht einmal Alaric selbst, sehen, wie sehr ihr das wehtat.
Alaric hatte die letzten Monate in Japan verbracht und paranormale
Forschungen angestellt, ein wahr gewordener Traum für einen Doktor-
anden in Parapsychologie. Seine Untersuchung der tragischen Geschichte
von Unmei no Shima, der Insel des Schicksals, auf der Kinder und Eltern
übereinander hergefallen waren, hatte nicht zuletzt Meredith und ihren
Freunden bei ihrem Kampf gegen die Kitsune geholfen.
Alaric hatte auf Unmei no Shima mit Dr. Sabrina Dell zusam-
mengearbeitet, einer Gerichtsmedizinerin, die trotz ihres akademischen
Grads genauso jung war wie Alaric, der vor Kurzem vierundzwanzig ge-
worden war. Es war also klar, dass Dr. Dell sehr begabt und fleißig sein
musste.
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Seinen Briefen und E-Mails zufolge, hatte Alaric in Japan die beste Zeit
seines Lebens verbracht. Und gewiss hatte er eine Menge gemeinsamer In-
teressen mit Dr. Dell entdeckt. Vielleicht sogar mehr als mit Meredith, die
gerade erst ihren Abschluss an einer Kleinstadt-Highschool gemacht hatte,
ganz gleich, wie reif und intelligent sie für ihr Alter sein mochte.
Meredith schüttelte unwillig den Kopf und richtete sich höher auf. Sie
machte sich lächerlich, dass sie sich wegen Alarics Beziehung zu seiner
Kollegin sorgte. Jedenfalls war sie sich ziemlich sicher, dass sie sich
lächerlich machte. Einigermaßen sicher.
Sie umfasste die Armlehne der Schaukel fester. Sie war eine Vampir-
jägerin. Es war ihre Pflicht, ihre Stadt zu beschützen, und das hatte sie
bereits getan, zusammen mit ihren Freunden.
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