Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
stimmt.«
Stefano sah sie an. »Du hast ganz wunderbare Instinkte, was Menschen
betrifft«, sagte er langsam. »Aber bist du dir sicher, dass du dich bei dieser
Sache mit Caleb nicht auf Sinne verlässt, die du nicht länger besitzt?« Er
dachte daran, wie die Wächter Elenas Flügel schmerzhaft abgeschnitten
und ihre Kräfte zerstört hatten; jene Kräfte, die sie und ihre Freunde nie
ganz verstanden hatten.
Elena wirkte bestürzt und wollte gerade den Mund zu einer Antwort
öffnen, als der Zug einfuhr und eine weitere Unterhaltung unmöglich
machte.
Am Bahnhof von Fell’s Church stiegen nur wenige Leute aus, und Ste-
fano entdeckte schon bald Alarics vertraute Gestalt. Nachdem er aus dem
Zug geklettert war, drehte Alaric sich wieder um, um einer schlanken
Afroamerikanerin auf den Bahnsteig zu helfen.
Dr. Sabrina Dell war ziemlich hübsch – das musste Stefano ihr lassen.
Sie war elfenhaft winzig, so klein wie Bonnie, und hatte kurz geschnittenes
Haar. Das Lächeln, das sie Alaric schenkte, als sie nach seinem Arm griff,
war charmant und zugleich koboldhaft. Sie hatte große braune Augen und
einen langen, eleganten Hals. Ihre Designerklamotten waren ebenso
modisch wie praktisch: weiche Lederstiefel, enge Jeans und eine saphir-
farbene Seidenbluse. Um den Hals hatte sie sich passend zu ihrer kultivier-
ten Erscheinung einen langen, durchsichtigen Schal geschlungen.
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Als Alaric mit seinem zerzausten, sandfarbenen Haar und jungenhaften
Grinsen ihr vertraut etwas ins Ohr flüsterte, konnte Stefano spüren, wie
Meredith sich verkrampfte. Sie sah aus, als würde sie am liebsten einige
ihrer Kampftritte oder -schläge an einer gewissen zauberhaften
Gerichtsmedizinerin erproben.
Aber dann entdeckte Alaric Meredith: Er stürmte herbei, nahm sie in die
Arme und zog sie von den Füßen, als er sie an sich riss, und sie entspannte
sich sichtlich. Binnen weniger Sekunden lachten und redeten sie beide und
konnten kaum aufhören, einander zu berühren – als müssten sie sich dav-
on überzeugen, dass sie tatsächlich wieder vereint waren.
Offensichtlich, dachte Stefano, waren jegliche Sorgen, die Meredith sich
wegen Alaric und Dr. Dell gemacht hatte, grundlos gewesen. Zumindest
soweit es Alaric betraf. Jetzt richtete Stefano seine Aufmerksamkeit wieder
auf Sabrina Dell.
Seine ersten wachsamen Fäden der Macht entdeckten einen leisen Groll,
den die Gerichtsmedizinerin verströmte. Nun ja, das war verständlich: Sie
war menschlich; trotz ihrer großen beruflichen Leistung war sie noch
ziemlich jung, und sie hatte eine Menge Arbeitszeit in unmittelbarer Nähe
des attraktiven Alaric verbracht. Es wäre vielmehr eine Überraschung
gewesen, wenn sie in Bezug auf ihn keine Besitzansprüche verspürt hätte.
Und jetzt musste sie mit ansehen, wie er in den Armen eines Teenagers
lag.
Wichtiger war Stefano allerdings die Erkenntnis, dass Sabrina von
keinem übernatürlichen Schatten umgeben war und er keine antwortende
Macht in ihr fand. Was auch immer der blutige Schriftzug ihres Namens
bedeutete, Dr. Sabrina Dell schien jedenfalls nicht dessen Urheberin zu
sein.
»Irgendjemand muss Fotos machen!«, rief Bonnie lachend. »Wir haben
Alaric seit Monaten nicht mehr gesehen. Wir müssen seine Rückkehr un-
bedingt dokumentieren!«
Matt holte sein Handy hervor und machte einige Fotos von Alaric und
Meredith, die Arm in Arm dastanden.
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»Von uns allen!«, beharrte Bonnie. »Sie auch, Dr. Dell. Stellen wir uns
doch vor den Zug – das ist ein wunderbarer Hintergrund. Du schießt
dieses Foto, Matt, und dann mache ich eins von dir mit den anderen.«
Während sie sich in Position brachten, stellten sich alle Sabrina Dell vor
und schlangen dann ausgelassen die Arme umeinander. Stefano atmete
den süßen Duft von Elenas Haar ein, als sie ihren Arm zärtlich um seinen
legte.
»Alles einsteigen!«, rief der Schaffner, und hinter ihnen schlossen sich
die Zugtüren.
Da bemerkte Stefano, dass Matt aufgehört hatte zu fotografieren und sie
mit einem entsetzten Ausdruck in seinen blauen Augen anstarrte. »Haltet
den Zug an!«, rief er. »Haltet den Zug an!«
»Matt? Was um alles in der Welt …?«, fragte Elena. Und dann drehte
Meredith sich zum Zug um – und begriff.
»Sabrina«, rief sie drängend und streckte die Hand nach der anderen
Frau aus.
Stefano beobachtete verwirrt, wie Sabrina abrupt zurückwich, beinahe
so, als hätte eine unsichtbare Hand sie ergriffen. Als
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