Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
der Zug sich in Bewe-
gung setzte, ging Sabrina erst neben ihm her, dann begann sie mit steifen,
hektischen Bewegungen zu rennen und griff sich gleichzeitig an die Kehle.
Plötzlich veränderte sich Stefanos Perspektive, und er verstand, was
geschah. Sabrinas durchsichtiger Schal hatte sich in der Tür des Zuges ver-
fangen, der sie jetzt mit sich zog. Sie rannte, um nicht erwürgt zu werden.
Der Schal riss sie wie eine Leine mit. Und der Zug beschleunigte. Sie zerrte
an dem Schal, aber beide Enden steckten in der Tür fest, und ihre
Bemühungen schienen den Schal nur noch fester um ihren Hals zu
schlingen.
Sabrina hatte das Ende des Bahnsteigs fast erreicht, und der Zug fuhr
immer schneller. Binnen Sekunden würde sie stürzen, sich das Genick
brechen, und der Zug würde sie meilenweit mitschleifen.
Es dauerte nur einen Atemzug, bis Stefano all das erfasste und
lossprang. Er spürte, wie eine Woge der Macht ihn durchlief und seine
59/328
Reißzähne sich verlängerten. Und dann rannte er, schneller als jeder
Mensch, schneller als der Zug, hinter Sabrina her.
Mit einer einzigen schnellen Bewegung packte er den Schal, nahm Sab-
rina in die Arme, linderte damit den Druck auf ihre Kehle und zerriss den
Schal.
Er blieb stehen und setzte Sabrina ab, während der Zug weiter
beschleunigte und den Bahnhof hinter sich ließ. Die Überreste des Schals
fielen von ihrem Hals und flatterten auf den Bahnsteig. Sie und Stefano
starrten einander schwer atmend an. Er hörte die anderen rufen, die
hinter ihnen auf sie zugerannt kamen.
Sabrinas dunkelbraune Augen waren vor Schreck geweitet und mit Sch-
merzenstränen gefüllt. Sie leckte sich nervös die Lippen und holte einige
Male keuchend Luft, während sie die Hände auf die Brust drückte. Stefano
konnte das Hämmern ihres Herzens hören, das Rauschen des Blutes in
ihrem Körper, und er konzentrierte sich darauf, seine Reißzähne zurück-
zuziehen und sein menschliches Gesicht wieder anzunehmen. Sie taumelte
plötzlich, und Stefano legte den Arm um sie.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Jetzt kann Ihnen nichts mehr
passieren.«
Sabrina stieß ein kurzes, leicht hysterisches Lachen aus und wischte sich
über die Augen. Dann richtete sie sich auf, straffte die Schultern und at-
mete tief ein. Stefano konnte sehen, dass sie sich bewusst beruhigte, ob-
wohl
ihr
Puls
noch
immer
raste,
und
er
bewunderte
ihre
Selbstbeherrschung.
»So«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Sie müssen der Vampir sein,
von dem Alaric mir erzählt hat.«
In diesem Moment kamen die anderen bei ihnen an, und Stefano warf
Alaric einen erschrockenen Blick zu.
»Es wäre mir lieber, wenn Sie das für sich behalten würden«, antwortete
Stefano und ergriff ihre Hand. Er verspürte einen Stich des Ärgers. Alaric
hätte dieses Geheimnis nie preisgeben dürfen. Aber seine Worte gingen
60/328
beinahe unter, als Meredith laut aufkeuchte. Ihre grauen, für gewöhnlich
sanften Augen waren dunkel vor Entsetzen.
»Seht nur«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Seht euch an, was da
steht.« Stefano richtete seine Aufmerksamkeit auf die Fetzen des durch-
sichtigen Stoffs zu ihren Füßen.
Bonnie stieß ein leises Wimmern aus, und Matt legte die Stirn in Falten.
Elenas schönes Gesicht war starr vor Schreck, und Alaric und Sabrina
wirkten gänzlich verwirrt.
Für einen Moment erkannte Stefano gar nichts. Dann schärfte sich das
Bild vor seinen Augen und er sah, was alle anderen betrachteten. Der zer-
rissene Schal war in einem kunstvoll verdrehten Haufen zu Boden gefallen,
und die eigentlich zufälligen Falten des Stoffs formten ziemlich deutlich
die Buchstaben:
meredith
Kapitel Acht
»Es war richtig unheimlich«, sagte Bonnie im Salon von Mrs Flowers. Sie
hatten sich alle in Matts Auto gezwängt; Elena war auf Stefanos Schoß ge-
hüpft und Meredith auf den von Alaric (was, wie Bonnie aufgefallen war,
Dr. Sabrina nicht im Mindesten begeistert hatte). Dann waren sie eilig zur
Pension gefahren, in der Hoffnung, dort Rat zu finden.Und jetzt erzählten
sie der alten Dame mit einem aufgeregten Wortschwall die ganze
Geschichte. »Zuerst ist Sabrinas Name – in meinem Blut –, wie aus dem
Nichts aufgetaucht«, fuhr Bonnie fort, »und dann dieser seltsame Unfall,
der sie beinahe getötet hätte, und zum Schluss erscheint auch noch
Meredith’ Name. Das war alles echt total unheimlich.«
» Unheimlich ist noch weit untertrieben«,
Weitere Kostenlose Bücher