Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
genau
das passiert, nicht wahr? Sie sollte eigentlich wissen, dass sich der Tod
nicht immer ankündigt, dass er für gewöhnlich dann kommt, wenn man
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ihn am wenigsten erwartet. Sie hatte das auch gewusst, bevor all das … all
diese Dinge mit Vampiren, Werwölfen und bösen, mysteriösen Gegnern
geschehen waren. Jahrelang war sie sich der einfachen Plötzlichkeit des
Todes schmerzlich bewusst gewesen, nachdem ihre Eltern gestorben war-
en; damals, als sie noch die normale Elena Gilbert gewesen war, die an
nichts Übernatürliches glaubte, nicht einmal an Horoskope oder
Wahrsagerei, und erst recht nicht an Ungeheuer.
Sie warf einen Blick auf den Beifahrersitz, auf dem der kleine Strauß
rosa Rosen lag, den sie für Margaret gekauft hatte. Und neben den Rosen
lag ein schlichter Strauß Vergissmeinnicht. Als würde ich jemals ver-
gessen, dachte sie.
Elena erinnerte sich an jenen ganz gewöhnlichen Sonntagnachmittag,
an dem sie mit ihren Eltern und dem einjährigen Baby Margaret von
einem schönen sonnigen Herbstausflug nach Hause gefahren war. Die
Blätter an den Bäumen am Straßenrand hatten gerade begonnen, sich rot
und golden zu färben.
Sie hatten in einem kleinen Gasthaus auf dem Land zu Mittag gegessen.
Margaret, die gerade Zähne bekam, war in dem Restaurant überaus quen-
gelig gewesen, und sie hatten sich abgewechselt, um mit ihr jeweils einige
Minuten auf der Veranda auf und ab zu gehen, während die anderen aßen.
Aber im Wagen war sie still und döste halb, und ihre hellgoldenen Wim-
pern ruhten immer länger und länger auf ihren Wangen.
Elenas Vater saß am Steuer, erinnerte sie sich, und im Radio war ein
Lokalsender eingestellt gewesen, damit er die Nachrichten hören konnte.
Ihre Mutter hatte sich umgedreht, um Elena auf dem Rücksitz anzusehen.
Ihre lapislazuliblauen Augen waren Elenas so ähnlich gewesen. Ihr
goldenes Haar, in das sich bereits eine Spur von Grau mischte, hatte sie zu
einem französischen Zopf geflochten, elegant und praktisch. Dann hatte
sie lächelnd gefragt: »Weißt du, was ich schön fände?«
»Was?«, hatte Elena gefragt und ihr Lächeln erwidert. Dann sah sie ein
seltsames Glitzern hoch oben am Himmel und sie beugte sich vor, ohne
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auf eine Antwort zu warten. Sie zeigte nach oben: »Schau, Daddy! Schau
dir das hübsche …«
Elena sollte niemals erfahren, was ihre Mutter schön gefunden hätte.
Das Letzte, woran Elena sich erinnerte, waren Geräusche: das
Aufkeuchen ihres Vaters und das Kreischen der Autoreifen. Danach war
alles leer, bis Elena im Krankenhaus aufgewacht war. Tante Judith hatte
an ihrem Bett gesessen, und sie hatte erfahren, dass ihre Eltern tot waren.
Sie waren gestorben, noch bevor die Sanitäter sie auch nur aus dem Auto
befreien konnten.
Bevor sie Fell’s Church wiederherstellten, hatten die Wächter Elena
gesagt, dass sie bei diesem Unfall hätte sterben sollen – nicht ihre Eltern.
Das Glitzern war ein Blitz aus einem Luftauto der Wächter gewesen, und
Elena hatte ihren Vater im schlimmstmöglichen Augenblick abgelenkt, so-
dass die Falschen gestorben waren.
Jetzt konnte sie diese Last spüren, die Schuldgefühle, überlebt zu haben,
ihre Wut auf die Wächter. Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturen-
brett. Sie hatte noch reichlich Zeit, bevor sie bei Margarets Aufführung er-
scheinen musste. Also bog sie ab und steuerte den Parkplatz des Friedhofs
an.
Elena parkte den Wagen und ging entschlossen über den neueren Teil
des Friedhofs, den Vergissmeinnichtstrauß in der Hand. Über ihr zirpten
fröhlich die Vögel. So vieles war im vergangenen Jahr auf diesem Friedhof
geschehen. Bonnie hatte zwischen diesen Grabsteinen ihre erste Vision ge-
habt. Stefano war Elena hierher gefolgt und hatte sie heimlich beobachtet,
als sie noch dachte, er sei lediglich der attraktive Neue in der Schule. Da-
mon hatte unter der Brücke einen alten Landstreicher fast leer getrunken.
Catarina hatte Elena mit Nebel, Eis und bösen Kräften vom Friedhof ge-
jagt. Und natürlich war Elena hier in der Nähe des Friedhofs von der
Wickery Bridge in den Tod gestürzt – am Ende dieses ersten Lebens, das
jetzt so lange zurückzuliegen schien.
Elena ging an dem kunstvollen Marmordenkmal für die Bürgerkriegs-
veteranen von Fell’s Church vorbei und hinunter zu dem schattigen
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Wäldchen, an dessen Rand ihre Eltern begraben lagen. Der winzige Wild-
blumenstrauß, den sie und Stefano vor
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