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Tagebuch (German Edition)

Tagebuch (German Edition)

Titel: Tagebuch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Frank
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dem Schreiben aufhören musste. Ich kann die Lust nicht unterdrücken, dir von einer anderen Unstimmigkeit zu erzählen. Doch bevor ich damit anfange, noch dies: Ich finde es sehr seltsam, dass erwachsene Menschen so schnell, so viel und über alle möglichen Kleinigkeiten Streit anfangen. Bisher dachte ich immer, dass nur Kinder sich so zanken und dass sich das später legen würde. Natürlich gibt es schon mal Anlass für einen »richtigen« Streit, aber diese Wortgefechte hier sind nichts anderes als Zankereien. Sie gehören zur Tagesordnung, und ich müsste eigentlich schon daran gewöhnt sein. Das ist jedoch nicht der Fall und wird auch nicht der Fall sein, solange ich bei fast jeder Diskussion (dieses Wort wird hier statt Streit verwendet, ganz falsch natürlich, aber das wissen Deutsche eben nicht besser!) zur Sprache komme.
    Nichts, aber auch gar nichts lassen sie an mir gelten. Mein Auftreten, mein Charakter, meine Manieren werden Stück für Stück von vorn bis hinten und von hinten bis vorn bequatscht und betratscht, und etwas, an das ich überhaupt nicht gewöhnt war, nämlich harte Worte und Geschrei an meine Adresse, soll ich jetzt laut befugter Seite wohlgemut schlucken. Das kann ich nicht! Ich denke nicht daran, diese Beleidigungen auf mir sitzen zu lassen. Ich werde ihnen schon zeigen, dass Anne Frank nicht von gestern ist! Sie werden sich noch wundern und ihre große Klappe halten, wenn ich ihnen klarmache, dass sie nicht mit meiner, sondern erst mal mit ihrer eigenen Erziehung beginnen müssen. Das ist eine Art aufzutreten! Einfach barbarisch! Ich bin jedes Mal wieder verblüfft von so viel Ungezogenheit und vor allem Dummheit (Frau van Daan). Aber sobald ich mich daran gewöhnt haben werde, und das wird schon bald sein, werde ich ihnen ihre Wörter ungesalzen zurückgeben, da werden sie anders reden! Bin ich denn wirklich so ungezogen, eigenwillig, störrisch, unbescheiden, dumm, faul usw., wie sie es oben behaupten? Na ja, ich weiß schon, dass ich viele Fehler und Mängel habe, aber sie übertreiben wirklich maßlos. Wenn du nur wüsstest, Kitty, wie ich manchmal bei diesen Schimpfkanonaden koche! Es wird wirklich nicht mehr lange dauern, bis meine angestaute Wut zum Ausbruch kommt.
    Aber nun genug hierüber, ich habe dich lange genug mit meinen Streitereien gelangweilt. Doch ich kann es nicht lassen, eine hochinteressante Tischdiskussion muss ich dir noch erzählen.
    Irgendwie kamen wir auf Pims weitgehende Bescheidenheit. Die ist eine so feststehende Tatsache, dass selbst von den idiotischsten Leuten nicht daran gezweifelt werden kann. Plötzlich sagte Frau van Daan, die jedes Gespräch auf sich beziehen muss: »Ich bin auch sehr bescheiden, viel bescheidener als mein Mann!«
    Hast du je im Leben so was gehört? Dieser Satz zeigt doch schon sehr deutlich ihre Bescheidenheit!
    Herr van Daan fand es nötig, das »als mein Mann« näher zu erklären, und sagte ganz ruhig: »Ich will auch nicht bescheiden sein. Ich habe immer festgestellt, dass unbescheidene Leute es viel weiter bringen als bescheidene.« Und dann wandte er sich an mich: »Sei nur nicht bescheiden, Anne, damit kommt man wirklich nicht weiter.«
    Mutter stimmte dieser Ansicht vollkommen bei. Aber wie gewöhnlich musste Frau van Daan zu diesem Erziehungsthema ihren Senf dazugeben. Diesmal wandte sie sich jedoch nicht an mich, sondern an mein Elternpaar, und sagte: »Sie haben eine seltsame Lebensanschauung, so etwas zu Anne zu sagen. In meiner Jugend war das ganz anders. Aber ich bin sicher, dass es jetzt auch noch anders ist, außer eben in Ihrer modernen Familie.«
    Damit war Mutters mehrmals verteidigte moderne Erziehungsmethode gemeint. Frau van Daan war feuerrot vor Aufregung. Jemand, der rot wird, regt sich durch die Erhitzung immer mehr auf und hat das Spiel bald verloren.
    Mutter, die nicht rot geworden war, wollte die Geschichte so schnell wie möglich vom Tisch haben und überlegte kurz, bevor sie antwortete: »Frau van Daan, auch ich finde tatsächlich, dass es im Leben viel besser ist, etwas weniger bescheiden zu sein. Mein Mann, Margot und Peter sind außergewöhnlich bescheiden. Ihr Mann, Anne, Sie und ich sind nicht unbescheiden, aber wir lassen uns auch nicht bei jeder Gelegenheit einfach zur Seite schieben.«
    Frau van Daan: »Aber Frau Frank, ich verstehe Sie nicht! Ich bin wirklich außergewöhnlich bescheiden. Wie kommen Sie dazu, mich unbescheiden zu nennen?«
    Mutter: »Sie sind sicher nicht unbescheiden, aber

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