Tagebuch (German Edition)
Vormittag noch nicht beendet, aber nachmittags war Vater nicht mehr in der Lage, die Lauschaktion fortzusetzen. Er war wie gerädert durch die ungewohnte und unbequeme Haltung. Ich nahm seinen Platz ein, als wir um halb drei Stimmen im Flur hörten. Margot leistete mir Gesellschaft. Das Gespräch war teilweise so weitschweifig und langweilig, dass ich plötzlich auf dem harten, kalten Linoleumboden eingeschlafen war. Margot wagte nicht, mich anzufassen, aus Angst, sie könnten uns unten hören. Und rufen ging erst recht nicht. Ich schlief eine gute halbe Stunde, wachte dann erschrocken auf und hatte alles von der wichtigen Besprechung vergessen. Zum Glück hatte Margot besser aufgepasst.
Freitag, 2. April 1943
Liebe Kitty!
Ach, ich habe wieder etwas Schreckliches in meinem Sündenregister stehen. Gestern Abend lag ich im Bett und wartete, dass Vater zum Beten und Gutenachtsagen kommen würde, als Mutter ins Zimmer kam, sich auf mein Bett setzte und sehr bescheiden sagte: »Anne, Papi kommt noch nicht. Sollen wir nicht mal zusammen beten?«
»Nein, Mansa«, antwortete ich.
Mutter stand auf, blieb neben meinem Bett stehen, ging dann langsam zur Tür. Plötzlich drehte sie sich um und sagte mit einem verzerrten Gesicht: »Ich will nicht böse auf dich sein. Liebe lässt sich nicht erzwingen.« Ein paar Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie zur Tür hinausging.
Ich blieb still liegen und fand es sofort gemein von mir, dass ich sie so rüde von mir gestoßen hatte. Aber ich wusste auch, dass ich nichts anderes antworten konnte. Ich konnte nicht so heucheln und gegen meinen Willen mit ihr beten. Es ging einfach nicht. Ich hatte Mitleid mit ihr, sehr viel Mitleid. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich gemerkt, dass meine kühle Haltung sie nicht gleichgültig lässt. Ich habe den Kummer auf ihrem Gesicht gesehen, als sie sagte, dass Liebe sich nicht zwingen lässt. Es ist hart, die Wahrheit zu sagen, und doch ist es die Wahrheit, dass sie mich selbst von sich gestoßen hat, dass sie mich selbst durch ihre taktlosen Bemerkungen für jede Liebe von ihrer Seite abgestumpft hat, durch ihre rohen Scherze über Dinge, die ich nicht witzig finde. So wie sich in mir jedes Mal alles zusammenkrampft, wenn sie mir harte Worte sagt, so krampfte sich ihr Herz zusammen, als sie merkte, dass die Liebe zwischen uns wirklich verschwunden ist.
Sie hat die halbe Nacht geweint und die ganze Nacht nicht gut geschlafen. Vater schaut mich nicht an, und wenn er es doch tut, lese ich in seinen Augen die Worte: »Wie konntest du so gemein sein, wie wagst du es, Mutter solchen Kummer zu bereiten!«
Alle erwarten, dass ich mich entschuldige. Aber das ist eine Sache, für die ich mich nicht entschuldigen kann, weil ich etwas gesagt habe, was wahr ist und was Mutter früher oder später doch wissen muss. Ich scheine und bin gleichgültig gegenüber Mutters Tränen und Vaters Blicken, weil sie beide zum ersten Mal fühlen, was ich unaufhörlich merke. Ich kann nur Mitleid haben mit Mutter, die selbst ihre Haltung wieder finden muss. Ich für meinen Teil schweige und bin kühl und werde auch weiterhin vor der Wahrheit nicht zurückschrecken, weil sie umso schwerer zu ertragen ist, je länger sie verschoben wird.
Deine Anne
Dienstag, 27. April 1943
Liebe Kitty!
Das ganze Haus dröhnt vor Streit. Mutter und ich, van Daan und Papa, Mutter und Frau van Daan, jeder ist böse auf jeden. Eine nette Atmosphäre, gell? Annes übliches Sündenregister kam in seinem vollen Umfang neu aufs Tapet.
Vergangenen Samstag kamen die ausländischen Herren wieder zu Besuch. Sie sind bis sechs Uhr geblieben, und wir saßen alle oben und wagten nicht, uns zu rühren. Wenn sonst niemand im Haus ist oder in der Nachbarschaft niemand arbeitet, hört man im Privatbüro jeden Schritt von oben. Ich hatte wieder das Sitzfieber. So lange mucksmäuschenstill zu sitzen, ist wirklich nicht erfreulich.
Herr Voskuijl liegt schon im Krankenhaus, Herr Kleiman ist wieder im Büro, die Magenblutungen waren schneller gestillt als sonst. Er hat erzählt, dass das Standesamt bei dem Brand neulich noch mal zusätzlich von den Feuerwehrleuten zugerichtet worden ist, die, statt das Feuer zu löschen, den ganzen Kram unter Wasser gesetzt haben. Macht mir Spaß!
Das Carlton-Hotel ist kaputt, zwei englische Flugzeuge mit einer großen Ladung Brandbomben an Bord sind genau auf dieses »Offiziersheim« gefallen. Die ganze Ecke Vijzelstraat-Singel ist abgebrannt.
Die
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