Tai-Pan
schwerfällig um und starrte den Eurasier an. »›Interessant‹ wäre hier das richtige Wort, mein Junge. Habe ich dich Jahre hindurch unterrichtet, damit du noch immer nicht den Unterschied zwischen ›Interessant‹ und ›schön‹ begriffen hast, he? Und ein großer Künstler ist er nicht. Er hat zwar einen ausgezeichneten Stil, und er ist mein Freund, aber es fehlt der Zauber des großen Meisters.«
»Ich hatte ›schön‹ in künstlerischem Sinn gemeint, Sir.«
Horatio hatte den plötzlichen Ausdruck von Gereiztheit auf Gordon Tschens Gesicht beobachtet. Armer Gordon, dachte er mitleidig. Gehört weder zur einen noch zur anderen Welt. Versucht verzweifelt, Engländer zu sein, und trägt trotzdem chinesische Kleidung und einen Zopf. Obwohl alle wußten, daß er das uneheliche Kind des Tai-Pan mit einer chinesischen Hure war, erkannte ihn doch keiner offen an – nicht einmal sein Vater. »Ich finde, er ist ein wunderbarer Maler«, sagte Horatio beschwichtigend. »Und ein wunderbarer Mensch. Seltsam, wie alle ihn verehren, und dennoch hat mein Vater nichts von ihm gehalten.«
»Ach, Ihr Vater«, sagte Mauss. »Er war ja ein Heiliger unter den Menschen. Er hatte hohe christliche Ideale, nicht so wie wir armen Sünder. Möge er in Frieden ruhen.«
Nein, dachte Horatio. Möge er im Höllenfeuer braten. Auf ewig.
Pfarrer Sinclair hatte zu der ersten Gruppe englischer Missionare gehört, die sich vor rund dreißig Jahren in Macao niederließen. Er hatte sich an der Übersetzung der Bibel ins Chinesische beteiligt und war einer der Lehrer in der englischen Schule gewesen, die die Mission gegründet hatte. Sein ganzes Leben lang war er als ein aufrechter Bürger respektiert worden – nur nicht vom Tai-Pan –, und als er vor sieben Jahren starb, wurde er als ein frommer Mann zu Grabe getragen.
Horatio brachte es zwar über sich, seinem Vater zu verzeihen, daß er seine Mutter in einen frühen Tod getrieben hatte; er verzieh ihm auch die erhabenen Grundsätze, die aus ihm einen engstirnigen Tyrannen gemacht hatten, seine fanatische Verehrung eines furchteinflößenden Gottes, seinen zielstrebig besessenen Bekehrungseifer und alle Prügel, die er seinem Sohn verabfolgt hatte. Aber selbst nach all diesen Jahren vermochte er ihm nicht zu verzeihen, daß er Mary geschlagen hatte, und auch nicht die Verwünschungen, die er auf das Haupt des Tai-Pan gehäuft hatte. Der Tai-Pan war es gewesen, der die kleine Mary auflas, als sie mit sechs Jahren voller Entsetzen davongerannt war. Er hatte sie beruhigt und getröstet und sie dann zu ihrem Vater zurückgebracht; ihn hatte er gewarnt, er würde ihn von seiner Kanzel herunterreißen und mit einer Pferdepeitsche durch die Straßen von Macao treiben, wenn er jemals wieder Hand an sie legte. Seitdem hatte Horatio den Tai-Pan vergöttert. Das Prügeln hatte zwar aufgehört, aber dafür gab es andere Strafen. Arme Mary.
Beim Gedanken an Mary schlug sein Herz schneller, und er blickte zum Flaggschiff hinüber, wo sie vorläufig wohnten. Er wußte, daß sie ihrerseits das Ufer beobachtete und daß sie ebenso wie er die Tage zählte, bis sie glücklich wieder in Macao wären – nur vierzig Meilen weiter südlich und doch so unendlich weit weg. Er hatte die ganzen sechsundzwanzig Jahre seines Lebens in Macao verbracht, ausgenommen ein paar Jahre in der englischen Heimat, wo er zur Schule gegangen war. Die Schule hatte er gehaßt, daheim wie in Macao. Er hatte es gehaßt, von seinem Vater unterrichtet zu werden; verzweifelt hatte er sich bemüht, es ihm recht zu machen, ohne daß es ihm jemals gelungen wäre. Ganz anders als Gordon Tschen, der als erster Mischling in die Schule in Macao aufgenommen wurde. Gordon Tschen war ein hervorragender Schüler und hatte Pfarrer Sinclair stets zufriedenzustellen vermocht. Aber Horatio beneidete ihn nicht: Auch Gordon Tschen hatte seinen Quälgeist gehabt – Mauss. Für jede Tracht Prügel, die er von seinem Vater bekommen hatte, mußte Gordon Tschen deren drei von Mauss einstecken. Auch Mauss war Missionar; er unterrichtete in Englisch, Latein und Geschichte.
Horatio zuckte die Achseln. Er sah, daß Mauss und Gordon unverwandt dem Langboot entgegenblickten, und er fragte sich, warum Mauss in der Schule dem jungen Mann gegenüber so streng gewesen war – warum er so viel von ihm verlangt hatte. Wahrscheinlich, so nahm er an, lag es daran, daß Wolfgang Mauss den Tai-Pan haßte. Weil der Tai-Pan ihn durchschaut und ihm Geld und die
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