Talitha Running Horse
jederzeit besuchen, Tally.«
»Okay«, sagte ich und hatte einen dicken Kloà im Hals. Im Herbst und Winter war das Geld immer besonders knapp bei uns, und ich konnte von Dad nicht verlangen, dass er mich jederzeit zu den Pferden fuhr, wenn ich Sehnsucht nach ihnen hatte. Ich wusste nur zu gut, dass ich Stormy von nun an nur noch selten sehen würde.
10. Kapitel
Am Tag darauf begann die Schule wieder. Adena holte mich am frühen Morgen ab und zusammen machten wir uns auf den Weg zum Schulbus, der unten an der HauptstraÃe hielt.
Adena war guter Dinge. Sie war froh, dass sie mich nicht mehr mit Stormy teilen musste, auch wenn sie das natürlich nicht zugab. Und sie konnte es kaum erwarten, Billy Two Star wieder zu sehen, den Jungen, in den sie immer noch verliebt war. Sie schnatterte ununterbrochen, wie ein Wasserfall. Ich gab mir Mühe, aber ich konnte überhaupt nicht richtig zuhören. In Gedanken war ich bei Stormy.
Im Englischunterricht blickte ich träumend aus dem Fenster und stellte mir vor, auf Stormys Rücken im Galopp über die Hügel zu fliegen. Als Mrs Turnbull mich etwas fragte, sah ich sie mit groÃen Augen an. Ich hatte die Frage überhaupt nicht verstanden.
»Die Ferien sind vorbei, Tally«, sagte meine Klassenlehrerin freundlich. »Aber vielleicht kannst du uns ja erzählen, wovon du gerade geträumt hast. War es vielleicht ein junger Powwow-Tänzer mit langen Adlerfedern auf dem Kopf?«
Alle lachten, und ich wurde rot.
Von Stormy zu erzählen hatte ich keine Lust, und so schwieg ich. Adena fand mein Verhalten peinlich und verdrehte die Augen.
Mrs Turnbull lieà mich in Ruhe und ich war ihr dankbar dafür. Sie fragte, wer etwas Spannendes erlebt hatte in den Ferien und bereit war, darüber zu erzählen. Corwin Little Finger meldete sich. Er hatte mit seinem Vater am Sheep Mountain Table zwei Dutzend ausgesetzte Hunde entdeckt. Fünf davon waren tot gewesen. Erschossen von irgendjemandem, der sie auf einfache Weise loswerden wollte. Aber da waren auch zwei Welpen gewesen, klein und schwach, die Corwin mit nach Hause nehmen durfte und aufpäppelte. Seine Augen leuchteten, als er von den beiden Hundebabys erzählte.
Niemand lachte. Wahrscheinlich hätte auch niemand gelacht, wenn ich ihnen von Stormy erzählt hätte. Doch schien es mir besser, meine Gefühle für mich zu behalten. Ich fürchtete, nicht die richtigen Worte für das zu finden, was ich empfand.
Tula, ein anderes Mädchen, erzählte von einer Reise, die sie mit ihren Eltern gemacht hatte. Sie waren von Freunden nach Deutschland eingeladen worden und hatten dort eine Menge gesehen. Neuschwanstein, ein Schloss wie aus Disneyland.
Mein Dad und ich waren noch nie irgendwohin in die Ferien gefahren. Dafür reichte unser Geld einfach nicht. Hin und wieder fuhren wir zelten in die Black Hills, die heiligen Berge der Lakota. Ich liebte diese Ausflüge. Dad lachte viel und konnte eine Geschichte nach der anderen erzählen. Auch in diesem Sommer hatten wir vorgehabt, für drei oder vier Tage in die Black Hills zu fahren. Aber dann war der Unfall mit Stormy passiert â¦
Als ich Adena in der groÃen Pause darum bat, den anderen nichts von Stormy zu erzählen, nickte sie, sah mich aber ganz merkwürdig an dabei.
Ich ahnte, dass meine Bitte zu spät gekommen war. Und wie befürchtet, machte die Geschichte vom verletzten Fohlen im Trailer schon am nächsten Tag die Runde in der Schule. »Ein Pferd im Badezimmer, so was bringt bloà ein Halbblut fertig«, sagte Tula kopfschüttelnd.
Ich dachte an Stormy, wie sie mit ihrem groÃen Verband um den Bauch dagelegen hatte und dass unser Badezimmer der sicherste Ort für sie gewesen war. Dad hatte mir erzählt, dass die Lakota früher so eng mit ihren Pferden verbunden gewesen waren, dass sie sie manchmal mit in ihr Tipi genommen hatten â wie einen Verwandten. Mitakuye Oyasin ist der Spruch, den wir Lakota vor und nach einer Zeremonie sagen. Mitakuye Oyasin: Alle Wesen sind verwandt.
»Ich wollte nicht, dass sie über dich lachen, Tally, das musst du mir glauben«, sagte Adena mit schlechtem Gewissen.
In den nächsten Tagen versuchte ich mich besser auf den Unterricht zu konzentrieren, aber es gelang mir nur schlecht. Unser Geografielehrer sprach über andere Erdteile und Länder. Er erzählte, wie die Gebirge entstanden waren, die weiten Ebenen, die
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