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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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trieb in diesen Augenblicken des reinen und gedankenl o sen Wohlbehagens, den letzten Augenblicken des Wohlbeh a gens, die sie vielleicht je erleben würde.
    Und so war es geschehen:
     
    Weihnachten, und die Sonne schien auf den Boden im Salon, und sie lag auf dem chinesischen Teppich in einer Lache ihres eigenen Blutes, und er saß neben ihr – neugeboren, staunend, unfertig.
    Aber menschliche Säuglinge werden ja auch unfertig geboren, weit weniger vollendet, als er es gewesen war. So mußte man es sehen. Er war einfach viel vollendeter als ein menschliches Baby. Kein Ungeheuer, nein.
    Sie half ihm gehen und stehen und bewunderte seine Sprechversuche und sein klingendes Lachen. Er war weniger schwach als unkoordiniert. Er schien alles zu erkennen, was er sah, und es korrekt zu benennen, sobald er den ersten Schock hinter sich gebracht hatte.
    Er roch wie ein neugeborenes Baby. Er fühlte sich an wie ein neugeborenes Baby, nur daß die Muskulatur schon da war, und er wurde mit jeder Minute stärker.
    Dann war Michael gekommen. Und es hatte den schrecklichen Kampf gegeben.
    Sie war sich sicher, daß er Michael getötet hätte, wenn sie ihn nicht vom Kampfplatz weggezerrt hätte. Halb lockend, halb mit Gewalt hatte sie ihn in den Wagen gebracht; die Alarmanlage hatte kreischend um Hilfe geschrien, und sie hatte seine wachsende Angst vor diesem Geräusch und seine zunehmende Verwirrung ausgenutzt. Wie haßte er laute Geräusche.
    Auf dem ganzen Weg zum Flughafen hatte er darüber geredet, wie alles aussah – die scharfen Konturen, das absolut lähmende Gefühl, genauso groß zu sein wie andere Menschen, und wie es war, aus dem Autofenster zu schauen und einen anderen Menschen auf gleicher Höhe zu sehen. In jenem a n deren Reich hatte er von oben gesehen, oder sogar von innen, aber fast nie aus menschlicher Perspektive.
    Seine Stimme war beredt, ganz wie ihre eigene oder wie M i chaels; sie war akzentfrei und verlieh den Worten eine eher lyrische Dimension, und er lachte ständig.
    Am Flughafen mußte sie ihn daran hindern, ständig an ihrem Haar und ihrer Haut zu schnuppern und zu versuchen, sie zu küssen. Aber inzwischen war sein Gang schon perfekt gewesen. Er rannte aus reinem Spaß am Laufen durch die Halle. Er sprang in die Höhe. Im Bann eines Radios, an dem sie vo r überkamen, hatte er sich hin und her gewiegt – eine Trance, die sie wieder und wieder erleben würde.
    Sie nahm das Flugzeug nach New York, weil es gerade startete. Sie wäre überall hingeflogen, nur um von dort zu entkommen. Sie war von wilder Panik erfüllt, von dem Wunsch, ihn vor jedermann auf der ganzen Welt zu beschützen, bis sie ihn beruhigen und feststellen konnte, was er wirklich war; sie empfand Besitzergefühle und rasende Erregung, Angst und wilde Ambitionen. Sie hatte dieses Ding geboren; sie hatte es g e schaffen. Sie würden es nicht in die Finger bekommen, es ihr wegnehmen, einsperren. Aber sie wußte, daß sie nicht gera d linig dachte. Sie war krank und geschwächt von der Geburt. Am Flughafen war sie ein paarmal fast ohnmächtig geworden. Er hielt sie im Arm, als sie ins Flugzeug stiegen, und flüsterte ihr hastig ins Ohr, kommentierte unablässig alles, was sie im Vorübergehen sahen, und ergänzte es mit planlosen Erläut e rungen zu Dingen aus der Vergangenheit.
    »Ich erkenne alles. Ich erinnere mich noch, weißt du, wie Jul i en sagte, dies sei das Zeitalter der Wunder, und wie er vo r aussagte, daß genau die Maschinen, die sie als so lebensnotwendig empfanden, innerhalb eines Jahrzehnts veraltet sein würden. Sieh dir die Dampfschiffe an, sagte er, und wie schnell die Eisenbahn ihren Platz eingenommen hat. Und schon fahren die Leute in Automobilen herum. Er wußte das alles; er wäre von diesem Flugzeug entzückt gewesen, weißt du. Ich verstehe, wie das Triebwerk funktioniert…«
    … und so war es immer weiter gegangen; von Zeit zu Zeit ha t te sie versucht, ihn zum Schweigen zu bringen, und schließlich hatte sie ihn dazu ermuntert, es mit Schreiben zu versuchen, da sie so erschöpft war, daß sie nicht mehr verstand, was er da redete. Er konnte nicht schreiben; er hatte den Stift nicht in der Gewalt. Aber er konnte lesen, und sofort las er jedes Stück Geschriebenes, das er in die Hand bekam.
    In New York verlangte er einen Kassettenrecorder, und sie schlief in einer Suite im Helmsley Palace ein, während er auf und ab ging, hin und wieder Kniebeugen vollführte oder die Arme streckte und in seinen Recorder

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