Tanz der Hexen
kleine digitale Anzeige zeigte die Tropfgeschwindigkeit der Infusion – aus einem Plastikbeutel rann glasklare Glukose durch einen dünnen Schlauch unter einem Wulst von Heftpflaster in den Handrücken der Frau. Die Hand lag flach auf der weißen Decke.
Mona blieb ganz still stehen und stieß die Tür dann vollends auf, bis an die Wand, so daß sie rechts ins Bad schauen kon n te. Eine Toilette aus Porzellan. Eine leere Dusche. Rasch m u sterte sie den Rest des Zimmers. Als sie sich vergewissert hatte, daß sie und ihre Mutter allein waren, wandte sie sich wieder dem Bett zu.
Das Profil ihrer Mutter hatte bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem ihrer Schwester Gifford im Sarg. Ein ausgemergeltes Gesicht aus lauter Ecken und Kanten versank in dem großen, weichen, nachgiebigen Kopfkissen.
Die Decke türmte sich wie ein Berg über dem Körper. Sie war schneeweiß, bis auf einen unregelmäßigen roten Fleck in der Mitte, nicht weit entfernt von der Hand mit den Pflastern und dem Schlauch und der Kanüle.
Mona kam langsam näher, umklammerte mit der linken Hand die Chromstange am Fußende des Bettes und berührte mit der rechten den roten Fleck. Naß, sehr naß. Sie konnte sehen, daß der Fleck immer noch größer wurde. Etwas sickerte von unten durch die Decke. Grob riß Mona die Decke unter Alicias schlaffem linken Arm herunter. Ihre Mutter regte sich nicht, ihre Mutter war tot. Das Blut war überall. Das ganze Bett war naß.
Ein Geräusch war hinter Mona zu hören, und dann sagte eine Frauenstimme in rauhem, unfreundlichem Flüsterton: »Weck sie nicht auf, Liebes. Wir hatten’s verdammt schwer mit ihr heute morgen.«
»In letzter Zeit mal die Vitalfunktionen kontrolliert?« fragte M o na und sah die Schwester an. Aber die Schwester hatte das Blut schon gesehen. »Ich glaube, die Chance, sie noch mal aufzuwecken, ist ziemlich klein. Wieso rufen Sie nicht meine Cousine Anne Marie? Sie sitzt unten in der Halle. Sagen Sie ihr, sie soll sofort raufkommen.«
Die Schwester war eine alte Frau. Sie nahm die Hand der T o ten und ließ sie gleich wieder los, wich vor dem Bett zurück und verließ das Zimmer.
Innerhalb weniger Minuten war das Zimmer voll Personal. A n ne Marie stand im Gang und wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Augen. Mona drückte sich in den Hintergrund.
Lange Zeit stand sie im Stationszimmer und hörte nur zu. Ein Assistenzarzt mußte gerufen werden, der Alicia rechtmäßig für tot erklärte. Sie mußten auf ihn warten, und das würde zwa n zig Minuten dauern. Inzwischen war es nach acht. Man hatte den Hausarzt gerufen, und natürlich Ryan. Der arme Ryan. Gott stehe ihm bei. Das Telefon klingelte jetzt unablässig. Und Lauren? In welcher Verfassung war sie wohl?
Benommen fuhr Mona hinunter ins Foyer und ging auf die Straße hinaus. Das Krankenhaus lag in der Prytania Street, nur einen Häuserblock weit von der Amelia Street, Ecke St. Charles Avenue, entfernt, wo Mona wohnte. Langsam ging sie im Mondlicht der Straßenlaternen den Gehweg entlang und dachte still nach.
»Ich glaube, ich möchte solche Kleider jetzt nicht mehr tragen«, sagte sie laut, als sie an der Straßenecke stand. »Nein, es ist Zeit, das Kleidchen und die Haarschleife wegzuschme i ßen.« Ihr Haus auf der anderen Straßenseite war ausnahm s weise hell erleuchtet. Leute stiegen aus Autos.
Mehrere Mayfairs hatten sie gesehen; einer zeigte zu ihr herüber. Jemand kam zur Ecke und streckte ihr die Arme entg e gen, als bedeute dies, daß sie beim Überqueren der Straße nicht überfahren wurde.
»Ja, ich glaube, ich kann diese Kleider nicht mehr leiden«, sagte sie bei sich, als sie vor dem von fern herankommenden Verkehr eilig über die Straße lief. »Nein. Hab’ die Nase voll davon.«
»Mona, Darling!« sagte ihr Cousin Gerald.
»Na ja, war nur eine Frage der Zeit«, sagte Mona. »Aber ich habe wirklich nicht damit gerechnet, daß sie beide sterben. Nein, das hab’ ich nicht kommen sehen.« Sie ging an Gerald vorbei, und auch an den Mayfairs, die sich am Gartentor und am Weg zur Treppe versammelt hatten.
»Yeah, okay«, sagte sie zu denen, die versuchten, mit ihr zu sprechen. »Ich muß erst mal dieses alberne Kleid loswerden.«
14
Juliens Geschichte
Es ist nicht meine Lebensgeschichte, die Sie hören wollen, aber lassen Sie mich bitte kurz erläutern, wie ich auf meine diversen Geheimnisse gestoßen bin. Wie Sie wissen, bin ich im Jahr 1828 geboren, aber ich frage mich, ob Ihnen klar ist, was das heißt. Es
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