Tanz der Sinne
ihr6
Schwester. »Nein, das nicht«, sagte Lucien ruhig.
»Ich gebe zu, daß ich es mir wünschen würde, aber mir geht es in erster Linie um ihre Sicherheit. Ich fürchte, sie befindet sich in größerer Gefahr, als ihr bewußt ist.«
Mit einem Gesicht, das sie plötzlich älter erscheinen ließ, als sie war, sagte Kathryn: »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Lord Strathmore, aber ich habe wirklich keine Ahnung, wo Kristine ist. Ich war’ froh, wenn es nicht so wäre.«
Ihre Worte waren absolut überzeugend, und Lucien spürte, daß sie ebenso besorgt um ihre Schwester war wie er. »Machen Sie eine Spazierfahrt mit mir. Das Wetter ist wie im Oktober, und die frische Luft wird Ihnen guttun.«
Als sie zögerte, setzte er hinzu: »Was soll Ihnen mit mir passieren, in einem offenen Gefährt, noch dazu, wenn ich lenke?«
Die Spur eines Lächelns trat in ihre Augen. »Ein überzeugendes Argument. Na schön, ich hole meinen Hut und mein Cape.«
Beide Kleidungsstücke waren, wie vorauszusehen, dunkel, nüchtern und praktisch. Lady Kathryn hielt sich vielleicht nicht für eine Gouvernante, aber ganz bestimmt kleidete sie sich so. Lucien war fasziniert von der Tatsache, daß sie ihrer Schwester so ähnlich und trotzdem so unscheinbar sein konnte.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie:
»Kristine könnte dasselbe Cape tragen und darin so elegant aussehen, daß ihr alle Blicke folgen würden. Einmal hat sie zu mir gesagt, daß eine gute Schauspielerin in der Lage sein muß, eine Straße entlangzugehen und jedem aufzufallen, oder dieselbe Straße entlangzugehen und von niemandem bemerkt zu werden.« Kathryn lächelte ironisch. »Wenn meine Schwester nicht auffallen will, tut sie so, als sei sie ich. Dann bemerkt niemand sie.«
»Sicher ist auch das Gegenteil wahr«, sagte Lucien, während er ihr in die Kutsche half. »Wenn Sie auffallen wollen, brauchen Sie nur auf die Straße zu gehen und so zu tun, als seien Sie sie.«
Sittsam ordnete sie ihre Röcke. »Ich hätte nie den Wunsch, derart vulgäre Aufmerksamkeit zu erregen.«
Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, als sie durch die belebten Londoner Straßen fuhren. Sie saß schweigend da, ohne das Bedürfnis, die Luft mit Geschnatter zu erfüllen. Ihr Benehmen war zwar zurückhaltender als das ihrer Schwester, aber sie hatte dasselbe prachtvolle Profil. Bei dem Anblick sehnte er sich inbrünstig nach Kit.
Als sie den relativen Frieden des Parks erreicht hatten, fragte er: »Haben Sie Ihre Schwester je darum beneidet, daß sie alle bezaubert?«
»Beneidet man die Sonne, weil sie scheint?«
antwortete sie. »Außerdem genießt Kristine es, der Mittelpunkt zu sein, und ich nicht, deswegen bestand nie eine Konkurrenz zwischen uns.«
»Niemals?« fragte er ungläubig.
»Niemals.« Sie warf ihm einen schrägen Blick zu.
»Ich weiß nicht, ob ein Nichtzwilling das nachvollziehen kann. Weil wir uns in so vielen Dingen ähnlich sind, freut mich ein Kompliment an sie ebensosehr, als hätte ich es erhalten. Ich habe mich immer über ihre Erfolge gefreut.«
Das klang aufrichtig, aber er hatte den Eindruck, daß sie nicht die ganze Wahrheit sagte. Ganz sicher hatte es Zeiten gegeben, in denen Kathryn sich nach Beachtung sehnte.
Sie sprach weiter. »Das trifft auch umgekehrt zu.
Einmal hat ein muffiger Witwer, der mich zu seiner nächsten Frau machen wollte, behauptet, ich wäre viel hübscher als Kristine. Selbst, wenn die Vorstellung nicht unsinnig gewesen wäre, hätte ich mich geärgert. Wie kommt er darauf, daß mir ein Kompliment auf Kosten meiner Schwester Freude machen würde?«
»Das war ungeschickt«, stimmte Lucien zu. »Und doch ist es durchaus möglich, daß der Knabe Sie wirklich anziehender gefunden hat. Der Glanz der Sonne mindert die Lieblichkeit des Mondes nicht.«
Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu. Dann starrte sie auf ihre behandschuhten Hände. »Sie haben eine glatte Zunge, Mylord.«
»Ja«, gestand er, »aber das heißt nicht, daß ich nicht gelegentlich die Wahrheit sage wie eben.«
Plötzliches Gelächter erhellte ihr Gesicht, und einen Augenblick lang war es, als säße Kit neben ihm, Kit mit all ihrem flatterhaften Charme.
Luciens Hände umklammerten die Zügel, als er sich zur Ordnung rief. Dies war nicht die Schwester, die er wollte.
Aber wenn Kathryn auch nicht die sinnliche Ausstrahlung ihrer Schwester hatte, so lauerte doch eine verlockende Andeutung von Sinnlichkeit unter der ehrbaren Fassade. Wie gut,
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