Tanz im Mondlicht
Voice
beworben hatte. So weit, so gut. Ihre frühere Mitarbeiterin war gegangen, als Jane ihren verlängerten Urlaub genommen hatte – obwohl sie gut mit ihr ausgekommen war, hatte sie gewusst, dass sie einen Preis für ihren Frühling in Rhode Island zahlen musste.
Für den Frühling und einen Teil des Sommers …
An der Wand hing ein Kalender, eine Erinnerung an ihren Heimatstaat mit Fotos von Newport und Providence; sie nahm ihn ab, legte ihn auf den Tisch und tat etwas Verrücktes: Sie zählte die Tage.
Sechzehn Tage im März, dreißig im April, einunddreißig im Mai, vierzehn im Juni. Dann addierte sie die Zahlen: einundneunzig insgesamt.
Einundneunzig Tage mit Chloe …
Jane legte die Hand auf den Kalender, als sei sie dadurch imstande, sich diese Tage einzuverleiben, mit Haut und Haaren, sie für immer zu bewahren. Doch die Zeit hatte ihre eigenen Gesetze. Zeit hatte ausschließlich mit der Gegenwart zu tun. Damit, wo man war und was man gerade tat, in einem x-beliebigen Augenblick; das verlieh dem Leben seine Bedeutung. Jetzt war August, und es waren einige Wochen vergangen seit der Zeit auf der Plantage, die ihr so heilig war …
Jane zwang sich, ruhig durchzuatmen. Jeder Atemzug schmerzte ein wenig, weil er den Abstand zu der mit Chloe verbrachten Zeit vergrößerte. Die Trennung war anfangs genauso qualvoll gewesen wie in den Tagen unmittelbar nach der Entbindung. Jane hatte nur noch an den Schock und den Kummer in Chloes Augen gedacht, vermischt mit der Angst vor einer Schwangerschaft und der Verwirrung eines jungen Mädchens, das erfahren musste, dass die Frau, die sie für ihre Freundin gehalten hatte, in Wirklichkeit ihre Mutter war.
Sie hatte es falsch angefangen. Es gab wahrscheinlich hundert Möglichkeiten, es besser zu machen. Was wäre gewesen, wenn sie von Anfang an mit offenen Karten gespielt hätte? Wenn sie zu Chloe an den Obststand gefahren wäre und gesagt hätte: »Hallo. Ich weiß, es klingt seltsam, aber ich bin deine Mutter.« Oder wenn sie Dylan beim Pädagogen-Dinner die Hand gegeben und sich mit den Worten vorgestellt hätte: »Sie kennen mich nicht, aber ich bin die leibliche Mutter Ihrer Nichte und brauche Ihre Hilfe …«
Dylan …
Sie wagte immer noch nicht, an ihn zu denken. Der kalte Blick des Gesetzeshüters, mit dem er sie gemustert hatte, als sei sie die größte Schwerverbrecherin aller Zeiten, war wie ein Eiszapfen, der ihr Herz durchbohrte. Sie hatte von ihm geträumt – möglicherweise jede Nacht, seit sie sich geliebt hatten, überwältigt von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit. Das war das Wort, das ihr nicht mehr aus dem Kopf ging: Zusammengehörigkeit. Bei Dylan hatte sie gespürt, dass es einen Menschen gab, zu dem sie gehörte, war sich nicht wie herrenloses Gut vorgekommen.
Liebe bewirkte, dass sich ein Mensch zugehörig fühlte. Das war Jane inzwischen klar. Nicht die hilflose, bedürftige Variante der Liebe, die sie die meiste Zeit ihres Lebens empfunden hatte – die nicht. Nicht die Liebe, die mit schmerzhafter Sehnsucht und der Angst gepaart war, ins Bodenlose zu stürzen, wenn man mitten in der Nacht aufwachte. Nicht die Liebe, die ständig fragt:
Wo ist Daddy, wann kommt er nach Hause
? Und nicht die Liebe, die einen Menschen dazu trieb, einem Phantom nachzujagen und ständig zu überlegen,
Liebt er mich denn nicht
?, also nicht die Art von Liebe, die sie letztlich mit ihrem Vater und mit Chloes Vater verbunden hatte.
Jeffrey Hayden.
Nachdem sie nach New York zurückgekehrt war – sie hatte ihre Mutter der Obhut von Sylvie und John überlassen und sich aus der Verantwortung geschlichen, weil sie dies nach allem, was passiert war, nicht auch noch ertragen konnte, weil es zu viel war für eine einzelne Person –, hatte Jane im Internet die Website der Brown University und Jeffreys Namen angeklickt – zum ersten Mal seit Jahren.
Er hatte seine berufliche Laufbahn als Assistent an der Brown begonnen. Und danach eine Anstellung als Dozent in der Englischabteilung erhalten. Das war noch in der Zeit vor dem Internet gewesen: Sie hatte es in der Sparte der Klassennotizen der Ehemaligen-Zeitschrift der Brown gelesen, und beim Anblick seines Namens war ihr jedes Mal der kalte Schweiß ausgebrochen.
Sie hatte mit Hilfe des Internets eine Zeitlang seinen Lebensweg verfolgt. Er war nach Harvard gegangen und Professor geworden. Er war auf der akademischen Schnellspur unterwegs, veröffentlichte in Fachjournalen, wie
The New Yorker,
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