Tausendundeine Nacht mit dir
„Über die Bedingungen sprechen wir später.“
Einen Augenblick lang verspürte Estrella nichts als ohnmächtige Wut, aber der Gedanke an die hundert elternlosen Mädchen, deren Schicksal sie auf ihrer Reise nach Indien so sehr berührt hatte, gab ihr die Kraft, sich zu beherrschen. Hundert Kinder ohne Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben. Aber der Dokumentarfilm konnte alles verändern. Durch ihn bekamen die Mädchen vielleicht eine Chance!
Ihre Blicke trafen sich. „Wie viel Geld brauchen Sie?“
Stolz hob sie das Kinn. „Wie viel haben Sie?“
Plötzlich lachte er. „Also, erzählen Sie mir von Ihrem Film. Spielen Sie die Hauptrolle?“
„Nein.“ Unvermittelt wurde ihr klar, dass sie dieses Gespräch nicht weiterführen konnte. Warum sollte sie sich weiter beleidigen lassen? Sicherlich fand sie jemanden, der ihr Projekt unterstützte, ohne von ihr zu verlangen, ihre Selbstachtung zu begraben!
Sie sah Carlo Gabellini in die Augen. Mit aller Kraft brachte sie ein schmerzliches Lächeln zustande. „Leben Sie wohl, Mr. Gabellini.“
Es regnete in Strömen, als Estrella das Hotel Majestic verließ. Die Lichter von Cannes waren nur verschwommen zu erkennen. Siezögerte einen Moment, entschloss sich dann aber, zu Fuß zu ihrem Hotel zu gehen. Sie wollte einfach nur fort.
Nachdem sie etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, war sie völlig durchnässt, und ihr war schrecklich kalt. Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahr. Jemand folgte ihr. Vorsichtig drehte sie sich um und entdeckte zwei Männer, die sich dicht hinter ihr hielten. Ihr Instinkt sagte Estrella, dass die beiden nichts Gutes im Schilde führten.
Erschrocken sah sie nach rechts und links, in der Hoffnung, einen weiteren Fußgänger zu entdecken, aber der Regen hielt die Menschen davon ab, durch die Straßen zu spazieren. Warum war sie nur so unbesonnen gewesen, nicht auf ein Taxi zu warten?
In diesem Moment hielt ein schwarzer Mercedes neben ihr. Das Fenster auf der Beifahrerseite wurde heruntergelassen, und Carlo Gabellini lehnte sich zu ihr hinüber. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Zitternd zog Estrella ihre nasse Stola enger um die Schultern. „Ich freue mich, Sie zu sehen, Carlo!“
Er stieß die Tür an der Beifahrerseite auf. „Steigen Sie ein!“
Kaum saß Estrella im Wagen, als er auch schon davonpreschte. „Sie wohnen im Carlton, richtig?“
Im Hotel Carlton stiegen hauptsächlich die Direktoren der amerikanischen Filmstudios und die Produzenten und Regisseure ab.
Es gelang Estrella kaum, sich anzuschnallen, so stark zitterten ihre Hände. „Ich danke Ihnen.“
Er warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. „Wir sollten die Polizei benachrichtigen.“
„Was soll ich denen sagen? Dass sich mir zwei Männer an einer Straßenecke genähert haben?“
„Ihnen hätte etwas Ernsthaftes zustoßen können!“
„Ich weiß.“ Sie sah Carlo an. „Sie waren meine Rettung.“
Ein eigenartiges Gefühl bemächtigte sich seiner. Estrellas Augen waren so wunderschön, voller Leidenschaft und Gefühl. Schon oft hatte er Fotos von ihr betrachtet und sie auch mehrmals auf dem Laufsteg bei den Schauen in Mailand gesehen, aber ihr Gesicht war dann immer ausdruckslos gewesen. Und lange Zeit hatte er geglaubt, sie wäre im Inneren ebenso hart und kalt.
Allmählich aber wurde ihm bewusst, welch interessante Frau sie war. So ganz anders, als Andre sie ihm beschrieben hatte.
Am Carlton angekommen, überließ er dem Hausdiener des Hotels das Auto und führte Estrella, nachdem er ihr fürsorglich seine Smokingjacke um die Schultern gelegt hatte, durch die von eleganten Menschen bevölkerte Halle.
Sie war immer noch aufgewühlt von dem eben Erlebten. Aber obwohl sie nass und zitternd durch die elegante Halle schritt, das lange schwarze Haar glatt zurückgestrichen, drehten sich die Leute nach ihr um. Neugierige Blicke trafen sie, und die Menschen machten Bemerkungen über ihr eigenartiges Aussehen. Trotzdem ging sie hocherhobenen Hauptes zum Aufzug, so als wäre alles in bester Ordnung.
Vor dem Lift nahm sie Carlos Jacke von den Schultern und gab sie ihm zurück. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Heute Abend haben Sie mir sehr geschadet und mich beleidigt, um mich dann wenig später aus einer gefährlichen Situation zu retten. Warum tun Sie das, Carlo?“
Es fiel ihm schwer, diese Frage zu beantworten. Angesichts der hinter ihnen versammelten Menschen, die darauf warteten, den Lift zu
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