Tausendundeine Stunde
das letzte Mal zärtlich in die Arme genommen? Wann haben wir das letzte Mal etwas gemeinsam unternommen? Wann reden wir miteinander? Und warum herrscht Totenstarre in unserem Bett? Ist mit Lillys Tod auch das letzte bisschen Zuneigung füreinander gestorben? Sag es endlich, du machst mich für den Tod unserer Tochter verantwortlich. Du lässt es mich an jedem verdammten Todesgedenktag spüren. Sprich es endlich aus.“ Damit hatte ich Georg aus seiner Reserve gelockt.
„Wenn du es so genau wissen willst, ja, ich glaube, dass Lilly noch leben könnte. Wenn du als treusorgende Mutter ständig nach ihr gesehen hättest.“
Ich schluckte. Tränen rollten über mein Gesicht. „Diesen Vorwurf nehme ich nicht an. Wir teilen das Schicksal Tausender von Eltern, deren Kind am plötzlichen Kindstod gestorben ist. Du hast dir einen Mantel aus Blei umgehängt, der keine Gefühle zu dir durchlässt, der verhindert, dass du noch mit Freude am Leben teilnimmst. Und das ist schade.“
Georg hielt den Kopf gesenkt, er war aschfahl im Gesicht geworden und schwieg.
„Sieh mich an und behandele mich nicht wie deine ärgste Feindin. Jetzt, wo du es endlich ausgesprochen hast, ist es an der Zeit, neu zu beginnen oder einen Schlussstrich zu ziehen. Denn so, wie wir miteinander leben, kann und will ich es nicht mehr.“
Wir sahen uns für wenige Sekunden in die Augen. Ich hoffte, er würde aufstehen und mich in die Arme nehmen. Aber er regte sich nicht. Also lief ich auf ihn zu und schlang meine Arme um seinen Hals. „Glaubst du, wir könnten noch einmal neu beginnen?“
“Ich weiß es nicht.“ Er löste meine Hände, die ich hinter seinem Nacken ineinander gehakt hatte und wendete sich ab. Diese Geste war mir Antwort genug.
Ich war zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Ich zog mir eine Jacke über und setzte mich auf die Terrasse.
„He, wer bist du denn? Du bist doch nicht etwa die Vogelmörderin?“
Eine Katze schmiegte sich an meine Beine und maunzte mich an. Ich streichelte sie. „Nein, du siehst sehr friedfertig aus. Komm, lass mal schauen, ob du ein Halsband trägst.“
Ich streichelte ihr Fell, sie schnurrte sanft. „Du bist doch bestimmt jemanden weggelaufen. Du siehst recht gepflegt aus und stehst auch gut im Futter. Oder hat man dich ausgesetzt?“ Die Katze schaute zu mir hoch und hatte ihre Ohrmuscheln nach vorn gedreht. Ihr Blick war wohlwollend und sie zwinkerte mir zu. „Ah, du magst mich?“ Nun tänzelte sie um meine Beine und schnurrte laut und wehleidig.
„Du hast Hunger, verstehe ich das richtig?“ Ich stand auf und ging in die Küche. Die Katze folgte mir furchtlos und ohne Argwohn. Jetzt konnte ich sie mir näher betrachten. Sie hatte bernsteinfarbene Augen, das Fell war rötlich. Besonders ihr Schwanz war sehr buschig, vor allem aber recht lang.
„Du bist aber ein besonders schönes Tier. Tja, schauen wir einmal, was wir für dich haben. Vogelfutter magst du sicher nicht.“
Die Katze drehte ihren Kopf zur Seite.
„Na, das habe ich mir gedacht. Schade, davon habe ich noch reichlich. Wie sieht es mit Gehacktem aus?“ Ich stellte ihr einen Teller mit etwas Rindsgehacktem hin.
Sie verschmähte es. Nun schnupperte sie die Küche ab und alles was sich darin befand.
„Hör mal, Katze, so leid es mir tut, aber du musst hier wieder raus. Das Fressen stelle ich dir hier hin. Suche dir ein Plätzchen hinten bei den Kaninchenställen. Da ist genügend Heu.“
Ich schob sie sanft hinaus und schloss die Terrassentür.
Sie maunzte. Für kurze Zeit saß sie noch vor der Tür, aber dann schlich sie sich davon.
Am nächsten Tag wiederholte sich das Spiel, ebenso am darauf folgenden. Ich beschloss, die Katze aufzunehmen. Zumindest so lange, bis sich ihr Besitzer bei mir meldete.
Ich hatte Zettel in der Siedlung ausgehängt. Insgeheim hoffte ich, dass sich der Besitzer nicht melden wird. Meine Hoffnung erfüllte sich. Wie sich herausstellte, war die Katze ein Kater. Ich nannte ihn Whisky, weil die Farbe seines Fells der Farbe von ausgereiftem Whisky glich.
Georg fand den Namen blöd, er nannte ihn „Kater“ und war sehr damit beschäftigt, Whisky umzuerziehen.
„So, mein Lieber, du wirst schon fressen, wenn du Hunger hast. Deine Artgenossen würden sich bei diesem Fresserchen alle vier Pfoten ablecken und dich kriege ich auch noch soweit.“ Er hatte eine Scheibe altes Brot in Milch eingeweicht und zur Garnierung die Pelle einer Scheibe Blutwurst draufgelegt.
Whisky stand vor seinem
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