Techno der Jaguare
sah mich verwundert an:
»Aber dich hat doch noch niemand jemals angefasst, mein Kind …«
»Oma, ich bin es, die täglich das Kuchenstück auf den Kühlschrank legt. Wenn ihr mich deswegen rauswerfen wollt, dann bin ich bereit!«
Es ist wahrscheinlich schwer erträglich, wenn eine Achtjährige ihre Erziehungsberechtigten, lauter Professoren und Lehrer, die sich nur um ihr Wohl sorgen, dermaßen an der Nase herumführt. Was nützte meinem Großvater seine weltweit gerühmte Weisheit, wenn sein eigenes Enkelkind ihn so täuschen konnte?
»So eine Unverschämtheit! Du Lügnerin!«
Einen Monat lang musste ich auf alles verzichten.
Danach wurde ich wieder ›geliebt‹.
Wenig später verprügelte ich das Nachbarskind, das ich bezichtigte, meine Haarspangen gestohlen zu haben. Ich schlug sie so heftig, dass mir drei Monate lang nicht nur die schönen Kleider und das neue Spielzeug entzogen wurden, sondern sogar die Süßigkeiten.
Dann kam ich in die Pubertät und fand meinen Platz in einer Clique von Möchtegern-Transvestiten. Danach bestand ich darauf, auszuziehen, und bis heute …
Ja, bis heute weiß ich immer noch nicht, wie viele Fische im Schwarzen Meer schwimmen, aber ich weiß, dass das Lesen von dicken Büchern nichts als Einsamkeit bedeutet. Früher war ich immer für alles Feuer und Flamme. Aber als ich einmal im Frühsommer an einer Schule vorbeilief, wo sich fröhliche Kinder mit dem Optimismus des Sternenbanners gegenseitig mit Coca-Cola-Flaschen nass spritzten, befürchtete ich, dass sie auch mich bespritzen und damit mein Marks-&-Spencer-Outfit ruinieren würden. Von wegen! Sie würdigten mich keines Blickes. Und in diesem Frühsommer stellte ich zum ersten Mal fest, dass ich erwachsen geworden war. Erwachsen und uninteressant. Dass meine alltägliche Routine langweiliger geworden war als die einer Bankangestellten und schmerzhafter als eine Mandeloperation. Trotzdem war ich nicht einsam. Ich liebte ihn, und er liebte mich. Unsere Beziehung dauerte drei Jahre … Ich fragte ihn, ob ich langweilig sei, und er verneinte …
Wir hatten uns auf einer Vernissage kennengelernt. Im typischen Stil der Achtziger angezogen, hielt ich mein Gesicht im Kragen meiner Lederjacke versteckt. Ich lehnte mich gegen die Eingangstür. Es war kalt. Aus der Ferne läuft ein Junge in meiner Richtung, geht auf meine Freundin Sopho zu und sagt: Kann es sein, dass wir uns aus den Neunzigern kennen? Ich musste lächeln. Bis heute kann ich nicht verstehen, wieso mich dieser Satz so angemacht hat.
Danach drehte er sich zu mir um und starrte mich an.
»Wo wohnst du?«
»Am Nildelta«, antwortete ich, und vom nächsten Tag an waren wir zusammen.
Er war Grafiker, ein Mensch voller Überraschungen. Ich wusste nie, wann er sich eine Zigarette anzünden würde. Seine Umgangsformen waren genauso ästhetisch wie seine Werke. Er mochte Pfefferminzbonbons. Er hatte eine therapeutische Wirkung auf mich. Wir hatten gemeinsame Freunde, interessierten uns für Mode und machten uns Gedanken um die Zukunft. Und die Zukunft kam auch: Die Ladenzeilen der bedeutendsten Städte Europas begannen, sich in monotoner Art und Weise zu gleichen; die grobe Techno-Musik entwickelte sich vom ästhetischen Elektro zum Sexy Disco.
In Amerika
Die Hellseher sagten, sie könnten im Amerika des 21. Jahrhunderts keine Wolkenkratzer mehr sehen, aber sie sagten nicht, wer die Skylines zerstören würde. Die Hellseher sagten, dass Georgien überleben würde, aber sie sagten nicht, auf wessen Kosten. Wir haben nur eine Chance: Wir müssen den Underground stärken! In diesem Fall bräuchten wir nicht mehr in den Wilden Westen zu fliehen. Und die Demokratie, die sich parallel zum Aufbau gleichzeitig auch als ein praktisches Mittel zur Zerstörung der Welt darstellt, würde die Underground-Szene als Letztes erreichen. Und was für ein Paradoxon dabei entstünde, wenn sich im Underground der fürchterlichste Feind von allen versteckte: eine starke Armee von Ichmenschen, ganze Bastionen von denen, die in der Weltgeschichte bisher unbesiegbar waren.
Die Hellseher hatten keine Prognose für den Underground. Vielleicht deshalb, weil eine unumstößliche Wahrheit darüber existiert: Der Underground lässt sich nicht von innen brechen, er ist einfach für alle zugänglich.
***
Vielleicht war das der Grund, warum Gogona so leicht die Tür zum Underground öffnen konnte, als sie kurz das Café Black verließ, um eine zu rauchen. Zufällig stellte sie sich neben
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